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Brauchen wir mehr Jagd für starke Wälder?
Dem Wald geht es nicht gut und daran sollen auch Rehe, Rothirsche und andere große Pflanzenfresser schuld sein. Sie fressen die jungen Bäumchen kahl und die menschengemachten Forste können sich dann nicht erholen. Also mehr Jagen, weniger Jagen, anders Jagen oder gar nicht?
Im Naturwald mit jungen und alten Bäumen sowie Sämlingen in der Krautschicht sind Rehe, Rot- und Damhirsche einfach nur große Pflanzenfresser – ein natürlicher Bestandteil des Ökosystems Wald. Doch beim angestrebten Umbau der Forste in Deutschland gelten sie als Schädlinge. Die Pflanzenfresser verursachen in den wirtschaftlich genutzten Wäldern Schäden, da jeder abgebissene oder abgeschabte junge Baum einen finanziellen Verlust für den Waldbesitzenden bedeutet. Rehe und Rothirsche scheuern außerdem ihre jährlich nachwachsenden Geweihstangen an jungen Bäumen. Damit zerstören sie die Baumrinde, so dass die Bäume oft absterben oder krumm wachsen.
Rund ein Drittel der Waldfläche in Deutschland ist mit Fichten oder Kiefern bepflanzt. Die Wirtschaftswälder sind dem rasanten Klimawandel nicht gewachsen. Millionen Hektar an Fichten- und Kiefernforsten müssen daher zu Laubwald oder Mischwald werden. Unter Fichten und Kiefern sollen nun Buchen, Eichen, Ahorne, Weißtannen, Douglasien und andere vielversprechende Baumsetzlinge gepflanzt werden.
Natürlicher Teil des Ökosystems Wald: Rothirsche, Elche und andere große Pflanzenfresser gestalten ihren Lebensraum und beeinflussen das Leben vieler Tier- und Pflanzenarten. In der Pflanzenwelt sorgen sie für ökologische Störungen und schaffen damit Nischen für eine Entwicklung ihres Lebensraums. Manche der Hirschartigen fressen unterschiedliche Grasarten in Wiesen und an Waldrändern. Andere bevorzugen Blätter und Beeren von Sträuchern, Kräuter oder die Blätter und Nadeln von Bäumen. Mit ihrem Kot und Urin düngen die großen Pflanzenfresser den Boden und sorgen so für den Nährstoffkreislauf im Wald. Aber auch ihr Verhalten verändert das Ökosystem. Rehe scharren den Boden frei und schaffen so offene Flächen, auf denen Pflanzensamen keimen. Auf ihren Wanderungen verbreiten sie die Pflanzensamen, die an den Klauen und im Fell mitreisen oder mit den Kotpillen zu Boden fallen. Mit dem Dung nähren Rothirsche, Rehe, Damhirsche eine Vielzahl an Fliegenarten, Schmetterlinge und versorgen über den Boden Pflanzen mit Nährstoffen.
Und die Zeit drängt. Hitze und Trockenheit im Jahr 2022 schlagen erneut Rekorde, weitere Zehntausende Hektar nichtangepasste Forste sterben ab. Seit 2018 sind bereits rund 400.000 Hektar Wald in Deutschland vertrocknet, viele tausend Hektar wurden gerodet und der Waldboden abgeräumt. Teile der Forstwirtschaft glauben, dass die neu gepflanzten Bäumchen besser wachsen, wenn kein Totholz herumliegt. Die naturnahe Waldwirtschaft hat diese These widerlegt und lässt tote Bäume in natürlich bewirtschafteten Wäldern als Nährstoff- und Wasserdepot im Wald liegen. Die Naturverjüngung in den abgestorbenen Fichtenforsten im Nationalpark Harz zeigt zudem, dass kreuz und quer liegende Baumstämme die Rehe und Rothirsche abhalten. Die toten Stämme nähren und schützen die von selbst nachwachsenden Bäumen.
Am Buffet für Hirsch und Reh
Auf den abgeräumten Flächen wachsen von Natur aus zunächst nur Pionierbaumarten wie Ebereschen, Birken und die unbeliebte Spätblühende Traubenkirsche. Die Samen dieser und andere Baumarten kommen mit dem Wind, Vögeln und dem Kot von wandernden Tieren wie Rehen und Hirschen. Es könnte Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis forstwirtschaftliche Hauptbaumarten wie Rotbuche oder Eiche auf den Waldflächen wachsen. In der Forstwirtschaft wollen viele nicht so lange warten. Für den Waldumbau zu Mischwäldern und die Wiederaufforstung der abgestorbenen Forste setzen viele Forstwirte auf Pflanzungen. Da jedoch jede gepflanzte Weißtanne, Rotbuche, Douglasie oder Stieleiche ein paar Euro kostet, wollen Waldbesitzende und Förster sie nicht an Rehe und Hirsche verlieren. Die gepflanzten Buchen, Eichen, Ahorne stehen dann hektarweise auf Fraßhöhe von Rehen, Rot- und Damhirschen – eine Art praktisches All-you-can-eat-Buffet für die Tiere.
Wirklich große Pflanzenfresser: Rund 25 Wisente ziehen durch das Rothaargebirge in Nordrhein-Westfalen. Sie sind die einzigen freilebenden Wisente in Westeuropa und damit die einzigen großen Raufutter- und Pflanzenfresser in Deutschland. Im Rothaargebirge überwiegen Fichtenforste und Buchenpflanzungen. Die Wisente finden ihren Weg zwischen eingezäunten Fichten- und Weihnachtsbaum-Plantagen. Auf den mit Reitgras bewachsenen Kahlschlägen und Windwurfflächen finden sie ausreichend Futter. Wisente sind reine Pflanzenfresser. Sie gelten als „ökologische Schlüsselart“ wie Kaja Heising, vom Verein Wisent Welt Wittgenstein e.V., im Interview erläutert.
Zuviel Futter
„Die Dichte der Gehölze zwischen 50 und 130 cm Höhe ist in Revieren mit nicht angepassten Wildbeständen ca. 30% niedriger“, haben Wissenschaftler der Universität Göttingen im BioWild-Projekt der Arbeitsgemeinschaft Naturgemäße Waldwirtschaft ermittelt. Forstwissenschaftler:Innen und Wildökolog:Innen der TU Dresden und der TU München haben von 2015 bis 2020 den Einfluss von großen Pflanzenfressern wie Rehe, Rothirschen und Damhirschen auf Pflanzungen in 248 Gattern und daneben untersucht. Biolog:innen nennen die Tiere auch „Schalenwild“, da Rehe und andere Hirschartige auf hornigen Schalen laufen. „Schalenwild beeinflusst Artenzahl und Dichte der Gehölze signifikant negativ,“ schreiben sie. „Die Anzahl der Baumarten im Gatter ist durchschnittlich 2,5-mal so groß wie außerhalb. Seltene Baumarten werden insbesondere von Rehwild bis zu 63% selektiert.“ Rehe fressen mehr eiweißreiche Blätter und Triebe von Bäumen und Büschen als zum Beispiel Rothirsche, die dank ihres Pansens große Mengen Grünfutter in Zucker und Eiweiß spalten können. Rehe wählen aus und fressen bevorzugt die seltenen Leckerbissen – auch in einer Pflanzung. Inmitten eines von Fichten dominierten Forstes sind die gepflanzten Buchen, Ahorne oder Weißtannen ein gefundenes Fressen, da drumherum nicht viel Gutes wächst.
Forste und Naturwald unterscheiden sich stark für Wild
Das liegt an der forstlichen Bewirtschaftung: Die Fichten sind alle gleich alte und hoch, geben also selbst keine Nahrung her. Fichtennadeln bedecken den Boden wie eine Matte und versauern den Boden. Denn weder Bakterien, Würmer, Asseln, Käfer oder andere Insekten können in den Fichtenmatten leben und die Nadeln zu Humus verdauen. Da der Boden in Fichtenforsten sauer ist, wachsen keine Kräuter oder Gräser. „Wild beeinflusst die Zusammensetzung der holzigen Vegetation. Außerhalb der Gatter findet man mehr Pionierbaumarten (z.B. Birke, Eberesche), im Gatter mehr Hauptbaumarten wie Eiche oder Buche“, haben die Forstwissenschaftler der Uni Göttingen im Laufe des Projekts beobachtet. Ihr Rat: Mehr und andere Jagdmethoden. Denn Wildverbiss beeinflusst die Entwicklung seltener Baumarten stärker als Licht- oder Klimavariablen, haben die Forstwissenschaftlerinnen der TU München in dem Projekt ermittelt. Sie empfehlen eine verstärkte Jagd, insbesondere auf Rehe. „Ab einer nachhaltigen Strecke von 10 Stück pro 100 ha und Jahr in Rehwildrevieren scheinen Verbissintensität und Entmischung erkennbar zu sinken.“ Mit „Strecke“ bezeichnen Jäger:innen die Anzahl der erlegten Tiere in einem Jahr. Doch die Forstwissenschaftler haben auch beobachtet, dass „die Gefahr, dass eine verbissene Pflanze erneut verbissen wird, größer ist als die eines Neuverbisses.“ Rehe und andere Pflanzenfresser wählen also bestimmte Bäume aus, von denen sie fressen und lassen andere unbehelligt wachsen. Das zeigt sich auch in dichtstehenden und großflächigen Naturverjüngungen. Eng beieinander stehende Weißtannen auf großen Lichtungen werden weniger stark verbissen, als kleine, einzeln stehende Pflanzungen. Auch in Reihe gepflanzte Fichten in Monokulturen werden stärker gestört als die Bäume in natürlichen Wäldern.
Anders Jagen ist möglich
Der Blick über die Landesgrenzen zeigt, dass auch ein anderer Umgang mit Schalenwild möglich ist. Tschechische Waldbesitzende und Jagende haben z.B. einen vollkommen anderen Umgang mit Rehen und Rothirschen als in Deutschland. Kurz gesagt: In Tschechien sind hohe Wildbestände erwünscht. Doch Rothirsche werden nicht wie in Deutschland in Wintergattern gefüttert. Die Tiere suchen sich selbst ihre Nahrung im Winter. Auch Rehe werden in Tschechien nicht gefüttert und unterliegen damit der natürlichen Auslese in jedem Winter. Zudem verringert die sehr beliebte Jagd in Tschechien die Wild-Anzahl. Doch nach welchen Kriterien wählen die Tiere ihren Lebensraum aus? Deutsche und tschechische Wissenschaftler haben im Ökosystem Böhmer Wald die Verteilung von Rehen und Rothirschen untersucht. Am wichtigsten sind den Tieren die Verfügbarkeit von Nahrung und ausreichend Deckung. Doch für ihre räumliche Verteilung spielte es keine Rolle, ob ein Gebiet im Nationalpark Bayerischer Wald oder in einem bejagten Privatwald lag. Die Landschaft samt topografischer Höhe und Landschaftsvielfalt haben den größten Einfluss auf die Verteilung der Rehe und Hirsche. Da die Landschaftsvielfalt in dem in Tschechien untersuchten Gebiet größer war, lebten dort mehr Rehe und Rothirsche in den Wirtschaftswäldern als im Nationalpark Bayerischer Wald. Die großen Pflanzenfresser sammeln sich also nicht in dem Schutzgebiet, wie von Jagenden in Deutschland oft vermutet, und strömen von da aus in benachbarte Wälder, um dort zu fressen – es ist in Tschechien genau umgekehrt
Sind vielleicht die Spaziergänger:innen, Reiter:Innen oder Vogelfreunde verantwortlich, wenn sie den Wald in Unruhe versetzen? Menschen stören oft, aber Rehe und Hirsche fressen nicht mehr oder anders, wenn sie gestört werden, wie die Wildökologen Jens-Ulrich Polster und Sven Herzog von der TU Dresden im Auftrag des Bundeslandwirtschaftsministeriums zwischen 2015 bis 2018 beobachtet haben. „Ein direkter Einfluss einzelner Stressauslöser auf beobachtbare Fraßeinwirkungen durch die Tiere konnte nicht belegt werden“, schreiben Polster und Herzog. „Die Ergebnisse deuten dagegen auf komplexe und sehr kleinräumig wirkende Zusammenhänge hin, die neben den Störeinflüssen auch von Gebietsmerkmalen wie Quantität und Qualität des Nahrungsangebots und von Deckung für die betroffenen Tierarten abhängen.“ Es geht eben Darum, dass die Tiere einen vielfältigen Lebensraum vorfinden.
Für die notwendige Neuausrichtung der Waldnutzung sollten gleichermaßen forstwissenschaftliche, waldökologische und wildbiologische Erkenntnisse genutzt werden. Waldökosysteme sind komplex und werden nicht entstehen, wenn sie wie ein Acker gepflanzt werden. Und auch Menschen wollen jetzt und in Zukunft einen vielfältigen, naturnahen Wald genießen.
Literatur
Quellen und weiterführende Literatur:
- The Ecology of Browsing and Grazing II, herausgegeben von Iain J. Gordon, Herbert H. T. Prins, Springer Nature, 2019
- J. Cukor et. al. : Scots pine (Pinus sylvestris L.) demonstrates a high resistance against bark stripping damage. Forest Ecology and Management, Volume 513, 1 June 2022, 120182
- Informationen zum BioWild-Projekt unter www.biowildprojekt.de/ und in Natur und Landschaft 7, Juli 2022, 97. Jahrgang.
- M. Heurich et al: Country, Cover or Protection: What Shapes the Distribution of Red Deer and Roe Deer in the Bohemian Forest Ecosystem?, Plos one, March 17, 2015
- Jens-Ulrich Polster, Sven Herzong: Untersuchung der Stressbelastung als Einflussfaktor auf Fraßeinwirkungen durch Wildwiederkäuer auf die Waldvegetation. TU Dresden, 2020
- Murphy & Comita (2021): Large mammalian herbivores contribute to conspecific negative density dependence in a temperate forest, Journal of Ecology Vol. 109, pp. 1194-1209
- Studie zur Frage, wie wilde Pflanzenfresser die Dichte der Naturverjüngung beeinflussen.