Keine Generationengerechtigkeit – das Erbe historischer Entwässerungsmaßnahmen im Wald
Vor kurzem haben wir an dieser Stelle besprochen, dass Wald ein Regenmacher ist und sich trockene Landschaften mithilfe von Waldbegründung befeuchten lassen. Aber wo mehr Wasser abfließt, als Regen fällt, entstehen Wasserschulden. Tatsächlich wurde in den vergangenen Jahrhunderten in weiten Teilen Mitteleuropas (und anderswo) ein waldzerstörerisches Werk getätigt, mit dessen Folgen wir heute zu kämpfen haben: Im Zuge der Industrialisierung der Forstwirtschaft wurde dem Wald das Wasser abgegraben. In unermüdlicher Handarbeit wurden Entwässerungsgräben gezogen, um die Flächen in die Massenproduktion der immer gleichen Baumarten eingliedern zu können. Bis heute entwässern die Gräben Waldböden, Waldmoore und Sümpfe. Das Wasser, das die Gräben schnell aus dem Wald herausbefördern, fehlt umso mehr, je weiter der Klimawandel voranschreitet.
Aufgelassener Entwässerungsgraben im Lübecker Stadtwald (März 2024, Stefan Kreft)
Welche Dimension hat dieses schwierige Erbe? Wir haben darüber keinen Überblick. Aber regionale Untersuchungen haben akribische Feinarbeit geleistet und verschaffen uns einen verstörenden Eindruck. Folgen wir also drei Wissenschaftlern in den Großen Soon, im Herzen des pfälzischen Soonwaldes gelegen. Der Soonwald liegt zwischen 180 und 657 Metern über dem Meeresspiegel im Mittelgebirge des Hunsrück etwa in der Mitte von Rheinland-Pfalz. Er liegt damit auch im Einzugsgebiet der Nahe, die immer wieder, zuletzt 2018, von schweren Hochwässern heimgesucht wird. Vor diesem Hintergrund stellten Michael Tempel, Hydrologe der Universität Koblenz, und seine Kollegen über viele Jahre Messungen an neuralgischen Punkten des dortigen Grabensystems an, um zu verstehen, wie viel Wasser den Wald über die Gräben verlässt. Außerdem inventarisierten sie das gesamte Grabennetz im Großen Soon und konnten so das Ausmaß der Entwässerung der Waldböden aufzeigen.
Engmaschige Grabennetze – das Ergebnis jahrhundertelanger Schaufelei
Der Große Soon bedeckt 192 Quadratkilometer, ungefähr die halbe Fläche Bremens. Die Wissenschaftler maßen über 500 laufende Kilometer Gräben, die den Großen Soon durchschneiden. Davon sind 200 Kilometer sogenannte Wegseitengräben, also solche, die die Forstwege begleiten. Dreihundert Kilometer sind Bestandsgräben – Gräben im Waldbestand. Der Vergleich mit einer Stadt illustriert auch die Dichte des kartierten Grabennetzes im Soonwald: Auf entsprechender Fläche hat eine Stadt wie Bremen 640 Kilometer innerörtliche Straßen.
Die Wissenschaftler rekonstruierten auch die Entstehung dieses Grabennetzes. Die Grabarbeiten beginnen im 18. Jahrhundert. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts geht es den Forstbehörden dabei um die Trockenlegung von waldfreien Sumpfflächen. Danach schicken sie die schaufelbewehrten Arbeiter zu den Flächen, die bereits waldbestanden sind. Auch diese müssen nach Ansicht der Verantwortlichen „meliorisiert“ werden, ein aus dem Lateinischen abgeleiteter Ausdruck des Wasserbaus, der „verbessern“ bedeutet. Die Grabarbeiten rücken unbesehen der jeweiligen Regierung vor – von kurzpfälzisch und napoleonisch bis preußisch. Zuerst ist das Ziel, Eichen und Buchen anbauen zu können; die preußische Forstpolitik favorisiert später Fichten. Der Höhepunkt der Bemühungen ist Mitte des 19. Jahrhunderts erreicht, als planmäßig 23 Kilometer Gräben angefertigt werden sollen – pro Jahr. In der zweiten Hälfte desselben Jahrhunderts melden Forstbeamte die ersten Probleme: Bäche führen phasenweise kein Wasser mehr, sodass Mühlen still stehen müssen; zu anderen Zeiten dagegen kommt es zu Hochwässern. Mancherorts lässt man die Schaufelei also erst einmal bleiben und schüttet sogar einige Gräben wieder zu. Aber der Plan, den Großen Soon zu „verbessern“, lässt keine Ruhe. Noch ein weiteres Jahrhundert, bis in die 1980er Jahre, werden neue Gräben gezogen und bestehende instandgesetzt. Erst nach großflächigen Sturmwürfen vollziehen die Behörden schließlich eine Abkehr von Fichtenforsten und damit auch von den intensiven Entwässerungsbemühungen.
Künstliche Entwässerung – Schäden auch außerhalb des Waldes
Die allgegenwärtigen Entwässerungsgräben haben Auswirkungen auf den Wald und weit über ihn hinaus. Die hydrologische Untersuchung zeigt, dass die Abflussspitzen der Soonwälder Bäche sich mit denjenigen der Nahe decken. Je mehr Wasser den Soonwald nach Regen verlässt, desto höher steigt also der Pegel im dicht bewohnten Nahetal. Einer früheren Simulationsstudie zufolge könnten allein die Wegseitengräben für 2,9 bis 5,3 Prozent mehr Abfluss aus dem Soonwald nach jedem einzelnen Niederschlagsereignis verantwortlich sein. Zur Erinnerung: Nur 40 % der Gräben im Gebiet sind Wegseitengräben, die Mehrheit sind Bestandsgräben. Sie waren zum damaligen Zeitpunkt noch nicht kartiert, sodass ihre Wirkung nicht einkalkuliert werden konnte.
Das Grabennetz besteht bis heute fort und ist ein Erbe, das schwer auf der Funktionstüchtigkeit der Waldökosysteme und der gesamten Region lastet. Auch wenn sich die Zerstörung des Wasserhaushalts nicht vollständig wird rückgängig machen lassen – die Abkehr von dieser Praxis ist vollzogen. Wie ein Rückbau der Entwässerungsinfrastruktur zu bewerkstelligen wäre, werden wir zu einem späteren Zeitpunkt hier besprechen.
Auch Entwässerungsgraben, die seit Jahrzehnten nicht mehr instandgehalten werden, können bisweilen noch Wasser führen, wie hier im Lübecker Stadtwald (März 2024, Stefan Kreft)
Kommentar
Die Autoren haben Spuren der Vergangenheit in beeindruckender Kleinarbeit für uns offengelegt. Die örtlichen Bedingungen sind zwar, wie auch im Soonwald, stets einzigartig. Gleichwohl sind die Ergebnisse der Studie ganz und gar keine Ausnahme. So wird etwa Brandenburg von 30.000 Kilometern linienhaften Gewässern durchzogen, in ihrer Mehrheit Entwässerungsgräben.
Tatsächlich, man sieht leicht über diese von Menschenhand geschaffenen Gewässer hinweg oder freut sich sogar über das Spiegelbild des Blätterdachs im Wasser. Ein genauer Blick legt allerdings nahe, dass „jeder Förster – so überraschend es klingen mag – jedes fließende Wasser im Revier mit Argwohn betrachten muss“. So gesagt von Rüdiger Mauersberger, einem Gewässerökologen, der sich in Nordostdeutschland seit Langem für die Wiederherstellung des natürlichen Wasserhaushalts in der Landschaft einsetzt.
Selbstverständlich gehören natürliche Waldbäche zum Waldökosystem, aber in vielen Regionen sind sie eben in der Minderzahl, die allermeisten linienhaften Gewässer wurden vom Menschen gegraben. Wo Waldbäche und Waldböden nicht pfleglich behandelt werden, schlägt das Wasser in den Tälern schnell im Überfluss auf und bedroht das Leben und die Güter der Menschen, die dort dicht an dicht wohnen. Besonders wichtig ist eine unverminderte Schwammwirkung der Böden dort, wo steile Hänge den Wasserfluss aus dem Wald beschleunigen. Was für die Nahe-Hochwässer stimmt, stimmt ebenso auch für die Ahrtal-Katastrophe 2021, wie Greenpeace und die Naturwald Akademie in einer gemeinsamen Studie gezeigt haben.
Es wird also klar, dass Waldbesitzende jede nötige Anstrengung auf sich nehmen sollten, Wasser in ihrem Wald zu halten. Dafür gibt es behördliche Hilfe und bundesweit nunmehr auch finanzielle Unterstützung im Rahmen des Förderprogramms Klimaangepasstes Waldmanagement.
Autor: Dr. Stefan Kreft
Literatur
Michael Tempel, Jörn Schultheiß, Timo Leidinger (2015): Historische Entwässerungsmaßnahmen im Soonwald und ihre Folgen. S. 65-81 in: Peter Chifflard, Daniel Karthe, Katja Heller: Beiträge zum 47. Jahrestreffen des Arbeitskreises Hydrologie vom 19.-21. November 2015 in Dresden.
Michael Tempel, Jörn Schultheiß (2017): Historische Entwässerungsgräben im Soonwald und deren Auswirkungen auf die Hochwasserentstehung. Siedlungsforschung. Archäologie – Geschichte – Geographie 34, S. 375–388.