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Das große Plus von Natur- und Urwäldern
Welche Rolle spielen Natur- und Urwäldern für den Schutz von Biodiversität und Klima im Vergleich zu Wirtschaftswäldern? Um diese Debatte konstruktiv zu führen und letztendlich eine evidenzbasierte und verlässliche Informationsgrundlage für politische Entscheidungen zu bieten, ist eine adäquate Datengrundlage unerlässlich. Das ist, wie die Autoren zeigen, nicht nur für den Umgang mit Wirtschafts- und Naturwäldern in Deutschland relevant, sondern auch für den Schutz von Europas letzten großen temperaten Urwäldern in den Karpaten.
Naturwälder und Biodiversität
Müssen wir Naturwald- und Urwald schützen, weil diese besonders wichtig für den Erhalt von Biodiversität sind? Oder leisten Wirtschaftswälder genauso viel (oder sogar mehr) zum Schutz der Biodiversität? Laut Autoren wurde in der Debatte um diese Frage ungerechtfertigterweise ein Narrativ über einen angeblich geringeren Wert von Ur- und Naturwäldern für den Biodiversitätsschutz etabliert.
Wie kam es dazu? Luick et al. erklären das mit Verweis auf die Herausforderungen, die mit vergleichenden Studien zur Biodiversität von Wirtschaftswäldern und Natur- bzw. Urwäldern verbunden sind. Nicht alle Studien werden diesen Herausforderungen gerecht und können belastbare Ergebnisse liefern.
In Europa gibt es kaum noch Urwälder. Daher liegt die erste Herausforderung darin, ein geeignetes Referenzsystem für den Vergleich mit Wirtschaftswäldern zu finden. Oft wird der Nationalpark Hainich als Referenz für Naturwälder herangezogen und mit Wirtschaftswäldern verglichen. Allerdings ist der Nationalpark Hainich kein Naturwald, sondern durch jahrhundertelange forstliche Nutzung geprägt, die erst in den letzten Jahrzehnten eingestellt wurde. Daher sind die Resultate dieser Studie nicht aussagekräftig für den Vergleich von Ur- und Naturwäldern und Wirtschaftswäldern.
Kriterien sind entscheidend
Neben der Wahl des Referenzwaldes ist eine weitere Herausforderung die Zusammenstellung der Kriterien zur Beurteilung der Biodiversität. Zur Bewertung notwendig ist ein ausgewogenes Spektrum unterschiedlicher Parameter (neben Artenzahlen und Abundanzen):
- Naturnähe (Grad der Übereinstimmung der betrachteten Biozönosen mit einem natürlichen oder naturnahen Referenzsystem)
- Seltenheit und Gefährdung der vorgefundenen Arten
- Repräsentativität und Auftretenswahrscheinlichkeit natürlicher Störungen und Prozesse
- Widerstandsfähigkeit (Stabilität) und Wiederherstellbarkeit (Elastizität) der Lebensgemeinschaften bei natürlichen Störungen
- Konnektivität von Lebensräumen (Vernetzung mit hinreichend ähnlichen Lebensräumen in der umgebenden Landschaftsmatrix)
- Repräsentativität des Ökosystems für eine höhere räumliche Ebene
- Ungestörtheit in Bezug auf möglichst geringe indirekte anthropogene Einflüsse
Oft wird nur auf einzelne Faktoren geachtet (z. B.: auf das Vorkommen von Gefäßpflanzen). Eine Studie besitzt allerdings kaum Aussagekraft, wenn das Studiendesign nicht eine ausreichende Bandbreite an Faktoren berücksichtigt.
Gute Studien über Buchenurwälder
Es gibt aber auch Positiv-Beispiele, die diese Anforderungen erfüllen. Die Autoren nennen mehrere Studien, die in den slowakischen Karpaten drei Buchenurwälder mit drei Buchenwirtschaftswäldern vergleichen.
Durch die Wahl eines geeigneten Referenzrahmens liefern diese belastbaren Ergebnisse auf die Frage nach der Rolle von Ur- und Naturwäldern im Biodiversitätsschutz:
- Diversität der Flechten in Urwäldern doppelt so hoch wie in Wirtschaftswäldern
- Diversität der Moose in Urwäldern 50 % größer als in Wirtschaftswäldern
- Gefäßpflanzen: auf Plot-Ebene in Wirtschaftswäldern höher, auf Landschaftsebene gleich
Die Ergebnisse zeigen, wie wichtig die räumliche Heterogenität von Urwäldern ist. Diese entsteht durch das Auftreten aller Baumaltersklassen und aller Waldentwicklungsphasen. Bewirtschaftung hingegen führt in der Regel zu Homogenisierung der Bestockung und zu Verlust der Alters- und Zerfallsphase.
Rolle von Ur- und Naturwäldern im Klimaschutz
Wie fällt ein Vergleich zwischen Wirtschafts- und Natur- bzw. Urwäldern in Bezug auf die Kapazitäten als Kohlenstoffspeicher/-senken aus? Das zu berechnen ist komplex und hängt vom Waldtyp, der Art der Bewirtschaftung und der Entwicklungsgeschichte ab. Grundsätzlich gilt, dass die Kohlenstoff-Senkenleistung erst mit dem Baumalter steigt und dann sukzessive abfällt.
Natur- und Urwälder durchlaufen kontinuierlich Entwicklungsphasen, bis sie nach einem jahrzehnte- bis jahrhundertelangem Prozess die Zerfallsphase erreichen. Erst in dieser Phase wird mehr Kohlenstoff freigesetzt als gebunden. Auf Landschaftsebene ist der Kohlenstoff-Speicher von Urwald daher größer als der von Wirtschaftswald.
Die Kohlenstoffsenken-Leistung hängt am Zuwachs und an der Höhe der Holzentnahme. Die Zunahme kann in durchforsteten Wäldern größer sein als in Naturwäldern, wenn bei der Durchforstung der Fokus auf produktiven dominanten Bäumen liegt.
In vergleichenden Studien in den slowakischen Karpaten wurde für Natur- und Urwälder eine größere Senkenleistung ermittelt als für Wirtschaftswälder.
Genaue Datengrundlage wichtig
Wie die Autoren feststellen, basiert die Diskussion zur Klimaschutzleistung von Wäldern zum Teil auf falscher Datengrundlage. Das führt zu falschen Ergebnissen mit problematischen Folgen, wenn diese zur politischen Entscheidungsfindung herangezogen werden.
Beispielhaft für diese Problematik: Schulze et al (2020) behaupten, Wirtschaftswälder hätten aufgrund höherer Zuwächse und eines zugeordneten Holzproduktespeichers zehnfach höhere Klimaschutzwirkung als Naturwälder. Diese Ergebnisse fungierten auch als Basis für eine Empfehlung an rumänische Regierung zum Umgang mit Urwäldern in den rumänischen Karpaten. Doch zwei Fehler im Studiendesign stellen die Belastbarkeit des Ergebnisses infrage: Zum einen wurde ungerechtfertigterweise der Nationalpark Hainich als Referenz für Naturwälder angeführt. Zum anderen wurden bei der Berechnung des Zuwachses für den Nationalparks Hainich im betrachteten Zeitraum nicht dieselben Flächen zugrunde gelegt.
Die Autoren schließen den ersten Teil des Beitrages mit einem kurzen Ausblick auf die zukünftige Rolle von Ur- und Naturwäldern in Europa. Und ziehen ein Fazit mit vier Empfehlungen für die Praxis im Umweltschutz.
2. Teil: Holzverbrauch im Klimawandel
Im zweiten Teil des Beitrages (siehe auch Quellenangabe rechts) gehen die gleichen Autoren auf das Narrativ von der Klimaneutralität der Ressource Holz ein: Diskutiert wird die CO2-Senkenleistung von Holz im Kontext der Holzverwendung und die differenziert zu betrachtende Substitution von Holzprodukten durch andere Materialien. Kritisiert werden die Annahmen zur Nachhaltigkeitsbewertung alternativer Szenarien zur Waldbehandlung und Holzverwendung der WEHAM-Studie (WaldEntwicklungs- und HolzAufkommensModellierung). Einer detaillierten Analyse bedarf die pauschalisierende Betrachtung von Holz als vermeintlich CO₂-neutrale Energiequelle. Die Ergebnisse werden in den Kontext der Rolle von Holz zur Umsetzung politischer Ziele für den Klimaschutz gestellt.
Abschließend werden mit den Resultaten beider Teile des Beitrags Schlussfolgerungen für die Versachlichung des Disputs um den Wert von Ur- und Naturwäldern gezogen.
Hinweis: Einer der Autoren ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Akademie.
Literatur
Rainer Luick et al. (2021) Urwälder, Natur- und Wirtschaftswälder im Kontext von Biodiversitäts- und Klimaschutz – Teil 1: Funktionen für die biologische Vielfalt und als Kohlenstoffsenke und ‐speicher, Naturschutz und Landschaftsplanung 53 (12), DOI: 10.1399/NuL.2021.12.01, hier abrufbar
und ergänzend
Luick et al (2021): Urwälder, Natur- und Wirtschaftswälder im Kontext von Biodiversitäts- und Klimaschutz – Teil 2: Das Narrativ von der Klimaneutralität der Ressource Holz, Naturschutz und Landschaftsplanung 54 (01), DOI: 10.1399/NuL.2022.01.02, hier abrufbar