Bildung
Foto: Mattias Rupp, FVA-BW
Der Wald als Weide?
Bis vor 200 Jahren war es in Mitteleuropa üblich, Rinder, Schweine oder Ziegen in Wäldern fressen zu lassen. Jetzt wird die Waldweide in verschiedenen Projekten wieder zum Leben erweckt. Sie kann vor allem in lichten Wäldern die Artenvielfalt fördern – wenn man es denn richtig macht.
Tiere für die Mast in den Wald zu treiben, das hatte in Mitteleuropa eine lange Tradition. Hirten führten ihre Schweine in Eichenwälder, weil die Eicheln schmackhaftes Fleisch gaben. Anderswo ließ man Rinder, Schafe oder Ziegen weiden. Schon in der Goldenen Bulle, dem Gesetzbuch der deutschen Kaiser, legten Rechtsgelehrte im 14. Jahrhundert klare Regeln für die Waldweide fest – um zu verhindern, dass die Wälder durch zu intensiven Viehtrieb übernutzt und zerstört wurden.
Noch bis vor gut 200 Jahren war die Waldweide ganz selbstverständlich. „Das ist heute komplett anders. Wald und Weide sind bei der Nutzung per Gesetz strikt getrennt, der Weidezaun markiert messerscharf den Waldrand“, sagt Dr. Mattias Rupp, Experte für „Historische Waldnutzungssysteme“ bei der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg in Freiburg. „Das ist bedauerlich, weil sich durch die Waldweide auf kleiner Fläche ein Mosaik verschiedener Lebensräume erschaffen lässt – wenn man es denn richtig macht.“ Mattias Rupp kennt Beispiele aus der Vergangenheit, bei denen Waldweiden gründlich schiefgegangen sind. Zu viele Tiere wurden in die Fläche getrieben, der Boden durch Hufe großflächig zerstört, die Bodenvegetation, Sträucher und Bäume im Übermaß abgefressen.
Ein Hutewald, ist ein Wald, der auch oder ausschließlich als Weide zur Viehhaltung genutzt wird. Bei dieser auch als Waldweide bezeichneten Form der Nutzung wird das Vieh in den Wald gehalten, um dort sein Futter zu suchen. Die Tiere fressen dabei Eicheln, Bucheckern sowie Blätter und Zweige junger Bäume. Dieser Verbiss kann jedoch die Naturverjüngung der Bäume deutlich reduzieren. Zugleich verschafft es so aber den fruchttragenden großen Bäumen mehr Licht. Durch diese vorwiegende historische Waldnutzung entstanden im Laufe der Zeit lichte bis fast offene, parkartige Wälder. Hutewälder oder Hutweiden sind also menschengemachte Kulturlandschaften und keine Naturlandschaften.
Sanfte Übergänge zwischen Grünland und Wald
Mattias Rupp ist in Baden-Württemberg seit 2014 für Waldweide-Projekte zuständig. Daher weiß er, dass es auch anders geht. Vor allem die Übergangsbereiche vom Wald zum Offenland können sich durch die Waldweide in vielfältige Lebensräume verwandeln. Vielerorts fände man harte Übergänge zwischen dem Umland, landwirtschaftlichen Flächen und dem Wald. Lässt man aber beispielsweise Rinder im lichten Wald weiden, komme Bewegung in dieses starre System. Wo sich die Tiere wälzen und scheuern, reißt die Grasnarbe auf, sandige Flächen entstehen, in denen viele Insekten eine Heimat finden, etwa Gelbe Wegameisen. Da Rinder schwer sind, können sie mit ihren Hufen sogar dicht durchwurzelte Böden und verbuschte Bereiche wie etwa Wacholderheiden öffnen. Der Urin liefert Schmetterlingen Mineralien, der Kot etlichen Insekten Nahrung. Kuhfladen sind vor allem im Winter wichtig, da in ihnen selbst bei Kälte Insekten gedeihen, die Vögeln als wichtige Proteinquelle dienen. Da Rinder auch Blätter und Zweige abfressen, halten sie Büsche und Bäume kurz und schaffen damit lichte und sonnige Bereiche. Totholz, das von der Sonne beschienen ist, dient Insekten, Spinnen, Käfern oder Asseln, die hier ihre Eier ablegen, als eine Art Brutschrank. Kurz: Die Waldweide kann einen sanften Übergang zwischen der offenen Landschaft und dem Wald schaffen – über die Krautschicht, sandige Flächen, Buschwerk, junge Waldabschnitte mit kleinen Bäumen bis hin zum dichteren Wald mit hohen Bäumen, dem Hochwald. Auch seltene Vogelarten wie der Ziegenmelker oder das Braunkehlchen finden sich in diesen Gebieten. Zudem leben viele Fledermausarten in den lichteren Bereichen
Naturschutz, nicht Landwirtschaft, ist das Ziel
Für Mattias Rupp ist die moderne Waldweide vor allem ein Naturschutzinstrument, das letztlich zu mehr Artenvielfalt am und im Wald führt. Und eines sei ganz klar: Sie dürfe nicht mit der Landwirtschaft oder den Interessen der Waldbesitzer kollidieren. Die Waldweide sei ein Element, das die Landschaft bereichern könne. Er will zeigen, wie lohnend es sein kann, dieses Element zu nutzen. Es sei erstaunlich, sagt Rupp, wie viele vermeintliche Urwälder heute Relikte früherer Weidewirtschaft seien – und mit ihren alten, knorrigen und einzelnstehenden Bäumen viele Besucher anlockten. „Um eine Landschaft im Sinn der Artenvielfalt zu bereichern, kann es sinnvoll sein, solche zugewachsenen Weidewälder zu reaktivieren.“ Rund 60 Weidewaldprojekte gibt es in Baden-Württemberg bereits. Diese liegen unter anderem in Gebieten mit trockenen oder geneigten Hängen, in ehemaligen Steinbrüchen in der Nähe von Wäldern oder in Auwald-Bereichen.
Tauernschecken im Wald: Ziegen wurden vielerorts bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zur Futtersuche auch in den Wald getrieben. Diese Tauernschecken sind eine robuste, langlebige österreichische Ziegenart, die aus dem Hohen Tauern Gebirge stammt. Beide Geschlechter sind gehörnt und bunt gescheckt. Sie zeichnen sich durch eine gute Milchleistung aus und werden neben dem Verkauf des Fleisches auch zum Freihalten extensiver Flächen von Verbuschung im Gebirge eingesetzt. Die Ziegenart gilt als hochgefährdete Haustierart, da sie kurz vor dem Aussterben stehen.
Französische Robustrinder und Wisente auf Waldweiden
Zwei bedeutende Projekt sind die „Wilden Weiden Taubergießen“ in der Gemeinde Kappel-Grafenhausen und die Wisentweide auf dem Härtsfeld, ein gemeinsames Projekt der Stadt Neresheim und der Gemeinde Nattheim (oder auch die WisentWeltWittgenstein). Im Taubergießen weiden über das ganze Jahr auf einem Quadratkilometer Salers-Rinder, eine französische Robustrinderrasse, auf extensiv genutztem Offenland und in einem Waldstück, das wirtschaftlich kaum genutzt ist. Auf dem Härtsfeld grasen ganzjährig Wisente. Hier ist es das Ziel, dass die Tiere das Offenland und den Wald im Laufe der Zeit miteinander verzahnen. Mattias Rupp betont, dass jedes Weidewald-Projekt ein Unikat sei. Jeder Wald sei anders, habe andere Standortbedingungen, andere Böden, andere Niederschläge, andere Baumarten. Deshalb brauche jedes Projekt einen eigenen Managementplan. Darin ist zum Beispiel festgelegt, welche Tiere für das Gebiet geeignet sind, wie oft die Tiere zum Weiden in den Wald gelassen werden und auch, wie viele Tiere pro Hektar eingesetzt werden. Die optimale Beweidung führt wohldosiert und ganz bewusst zu wiederkehrenden Störungen, die die Entwicklung neuer Habite anstoßen – etwa von offenen, sandigen Flächen, die fortan jenen Pflanzen einen Lebensraum bieten, die auf nährstoffarme Böden spezialisiert sind. „Entscheidend ist, die Beweidung so zu dosieren, dass Waldgebiete nicht verwüstet werden.“
Erinnerung an die Zeit der großen Grasfresser
Dass Weidetiere in der Landschaft ein Mosaik aus offenen und geschlossenen Arealen schaffen, ist für Mattias Rupp das Natürlichste von der Welt. Er geht davon aus, dass Europa bis nach der Eiszeit von großen Pflanzenfressern besiedelt war, den Megaherbivoren – etwa Riesenhirschen, Auerochsen oder Waldelefanten, die nach und nach durch den Menschen ausgerottet wurden. Er folgt damit der Megaherbivoren-Hypothese, die seit einigen Jahrzehnten unter Biologen und Paläontologen mehr und mehr Verbreitung findet. Demnach haben die Megaherbivoren die Waldlandschaft massiv mitgestaltet, und Mitteleuropa zu einem Mosaik aus dichteren und lichteren, teils parkartigen Wäldern geformt. Intensiv beweidete Gebiete blieben dadurch über das ganze Jahr offen. Diese Hypothese ist umstritten. Sie steht der Vorstellung anderer WissenschaftlerInnen entgegen, dass Mitteleuropa in der Vergangenheit dicht bewaldet war.
Für Mattias Rupp ist die Megaherbivoren-Hypothese plausibel, weil das Aussterben vieler Tierarten ganz offensichtlich mit der Ausbreitung des modernen Menschen zusammenfiel. „Mit dem Konzept der Waldweide lassen wir Landschaftselemente aufleben, die früher typisch für Mitteleuropa waren.“ Die Projekte in Baden-Württemberg zeigten, dass die Artenvielfalt in den beweideten Gebieten deutlich zunehme. Hinzu komme, dass die Waldweide ganz nebenbei nachhaltig produziertes Fleisch liefere. Alles in allem biete die Waldweide die Chance, Waldgebiete zu bereichern. „Wenn es um den Schutz von Wäldern und die Artenvielfalt geht, dann bringt es wenig, Schutzkonzepte in Konkurrenz zueinander zu denken“, sagt Mattias Rupp. „Schutzkonzepte sind Werkzeuge, von denen man die jeweils richtigen auswählen muss. Die Waldweide ist ein Werkzeug, das viel Dynamik in die Waldgebiete bringen kann.“
Literatur
Quellen und weiterführende Literatur:
- ForstBW, 2017: Merkblatt Waldweide.
- Margret Bunzel-Drüke, 2010: Artenschwund durch Eiszeitjäger? In: Bayerische Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft: Großtiere als Landschaftsgestalter – Wunsch oder Wirklichkeit? Berichte aus der LWF, 27.
- Eckhard Jedicke, 2013. Waldweide und Naturschutz – historische Vorbilder, aktuelle Ziele und Umsetzbarkeit. In: Nationalpark-Jahrbuch Unteres Odertal 10, 43 – 52.
- Mattias Rupp, 2013: Beweidete lichte Wälder in Baden-Württemberg: Genese, Vegetation, Struktur, Management. Promotion, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau.
- Mattias Rupp & Hans-Gerhard Michiels, 2020: Waldweide im Waldnaturschutz. Standort.wald, Mitteilungen des Vereins für Forstliche Standortskunde und Forstpflanzenzüchtung, 51, 153 – 172.