Wilde Buchen im Kellerwald

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Mehr Wildnis wagen

Im April 2023 erschien ein Buch über ein noch wenig bekanntes Naturschutzkonzept in Deutschland: das Rewilding. Das Buch verbreitet neben viel Fachwissen auch eine positive Nachricht: Das Artensterben können wir alle aufhalten und sogar umkehren! Die Autorin von „Rewilding„, Simone Böcker, beschäftigt sich mit einem Thema, das viele Emotionen auslöst: Wollen wir wieder mehr Wildnis in unserer Welt haben? Welcher Gewinn wäre mehr Wildnis für uns alle? Wir haben mit der Autorin gesprochen, um zu erfahren, wie ihr Buch aufgenommen wurde.

Frau Böcker, warum ist Wildnis auch für ein dichtbesiedeltes Land wie Deutschland wichtig?

Es gibt 0,6 Prozent Wildnis in Deutschland, und das Ziel von zwei Prozent wird seit Jahren nicht erreicht. Das sind Zahlen, die bereits viel aussagen. Im Umkehrschluss nämlich werden mehr als 98 Prozent des gesamten Landes in irgendeiner Weise vom Menschen genutzt. Selbst das, was wir als „Natur“ wahrnehmen, ist oftmals keineswegs „natürlich“, wie beispielsweise große Teile der Wälder. Es ist aber notwendig, dass Natur Platz hat, um für sich selbst zu existieren, ohne Nutzungsdruck. Nur so können wir Artenvielfalt erhalten. Intakte Natur ist überall auf der Welt notwendig, damit das Erdsystem insgesamt funktionieren kann. Wir im dichtbesiedelten Deutschland stehen dabei umso mehr in der Pflicht, unseren Teil beizutragen.

Wie würden Sie Wildnis definieren?

Wildnis heißt für mich, dass in einem Gebiet natürliche Prozesse weitgehend uneingeschränkt stattfinden dürfen – ohne schädlichen, regulierenden Eingriff des Menschen. Der Mensch ist dabei nicht ausgeschlossen, doch ist seine Rolle eher eine unterstützende. Wildnis ist insofern „wild“, als dass Naturdynamiken sich dort frei entwickeln können.

Zu Simone Böcker
10 Jahre hat Simone Böcker als freie Journalistin für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk aus Bulgarien und anderen Balkanländern berichtet. Dann folgte im Jahr 2015 ein Master an der Universität der Gastronomischen Wissenschaften in Pollenzo (Italien), um auf ganzheitliche Weise über Essen und die faire, nachhaltige und ökologische Produktion von Lebensmitteln zu lernen. Dort hat sie die Faszination für Wildpflanzen entdeckt. Seitdem ist Simone Böcker in mehreren Feldern zu Hause: Als Journalistin schreibt sie über Themen von Natur bis Nachhaltigkeit, als Gastronomin interessiert sie sich für die Umstellung unserer Ernährung. Und den Wildkräutern widmet Simone Böcker sich mit ihren Kräuterkursen bei UNKULTIVIERT.

Ist Wildnis das Ziel von Rewilding?

Ja, das wäre das wünschenswerteste Ziel. In unseren sehr durchkultivierten Landschaften ist es aber auch schon ein Erfolg, mehr natürliche Prozesse in der Landschaft stattfinden zu lassen – Überschwemmungsgebiete einrichten, Flüsse renaturieren, Entwässerung stoppen. Und auch auf genutzten Flächen kann Rewilding umgesetzt werden: im naturnahen Wald beispielsweise, und auch bei der Landwirtschaft gibt es Möglichkeiten, die Äcker „wilder“ zu gestalten.

Ist Wildnis nur für Tiere da?

Tiere brauchen auf jeden Fall mehr Platz als wir ihnen momentan zugestehen. Aber Wildnis ist ein komplexes Ökosystem, das aus vielen Lebewesen und Elementen besteht. Dazu gehören Tiere, Pflanzen, Pilze und unendlich viele Mikroorganismen, Wasser, Erde, Steine, und natürlich auch der Mensch. Eine Aufgabe ist es, uns wieder alle zusammen als ein großes Ganzes zu verstehen. Wildnis ist für alle da, weil wir auf Dauer nur gemeinsam (über)leben können.

Praktisch alle Naturschutzverbände sind sich einig, dass wir auch in Deutschland mehr Wildnis benötigen. Aber vor Ort sind die Zweifel oft groß, wenn z.B. ein Nationalpark geplant wird. Wie können wir Ihrer Erfahrung nach mehr positive Emotionen und Verständnis für Wildnis in Deutschland wecken?

Leider spielt oft Verlustangst eine große Rolle. Worauf müssen wir für mehr Natur verzichten? Es geht aber darum, was wir durch Wildnis gewinnen können. Wir müssen uns umstellen, wenn wir Natur – und damit unsere Lebensgrundlage – nicht weiterhin verlieren wollen. Wie können wir eine Veränderung herbeiführen, die uns allen gut tut, und sogar bessere Bedingungen für Natur und Mensch schafft? Ich wünsche mir mehr Fokus auf kreative und positive Lösungen, in allen Bereichen der Gesellschaft. Von Gemeinwohlökonomie, Postwachstumsideen bis zu Rewilding.

Gibt es gute Beispiele, wie wir wilder leben können und zugleich gut wirtschaften können?

Ein gutes Beispiel ist für mich das „Lübecker Modell“ in der Waldwirtschaft. Wald wird sich sehr weitgehend selbst überlassen und natürliche Prozesse dürfen stattfinden. Dennoch wird der Wald auch wirtschaftlich genutzt, doch der Nachhaltigkeitsgedanke steht dabei im Vordergrund. Wirtschaft sollte grundsätzlich nach ähnlichen Lösungen suchen, wie auch die Natur arbeitet: als Kreislaufwirtschaft, mit Produktionsprozessen ohne Abfälle, mit minimalem Energieaufwand bzw. viel höherer Energieeffizienz. Auch „Grüne Chemie“ ist dabei ein Stichwort, industrielle Chemie durch das Rezeptbuch der Natur zu ersetzen. Solche innovativen Lösungen wird es für die Zukunft brauchen.

Gibt es für Sie in Deutschland (oder angrenzend) Wildnis, die Sie besonders schön/wichtig/bemerkenswert finden?

Ich liebe die Berge überall in Europa, weil sie sich der Nutzung – abgesehen vom Skisport – weitgehend entziehen und dort noch intakte, ursprüngliche Natur anzutreffen ist. In Deutschland ist die Region um das Oder Delta sehr bemerkenswert, weil es sehr dünn besiedelt und wenig erschlossen ist. Viele Tierarten haben sich dort von selbst wieder angesiedelt. Dadurch kann man gerade auf der polnischen Seite eine einzigartige, „natürliche“ Natur erleben.

Wie ist nach gut einem halben Jahr die Resonanz auf Ihr Buch?

Das Feedback vieler Menschen ist sehr emotional. Das Thema berührt Menschen, weil sie verstehen, dass es nicht nur um technische Dinge geht, um das Einsparen von CO2 oder ähnliches, sondern um unsere ganz persönliche Beziehung zur Natur. Welchen Stellenwert wollen wir Natur geben? Wollen wir uns weiterhin über alle anderen Lebewesen und ihre Bedürfnisse stellen? Sind wir bereit, auf Augenhöhe mit Pflanzen und Tieren zu kommen? Diese Fragen stoßen bei vielen Menschen auf Resonanz, was mich sehr freut.

Sie sprechen im Buch von der Lebendigkeit von Ökosystemen und betonen weniger die Funktionen von Wildnis. Wie ist das zu verstehen?

Für mich geht es darum, von der rationalen, sehr wissenschaftlich geprägten Sichtweise unserer westlichen Kultur wegzukommen. Sicher ist es gut, Daten zu erheben, aber damit begreifen wir nicht die ungeheure Komplexität vom Leben auf diesem Planeten. Was uns oft fehlt, ist die Emotionalität, das Fühlen, das Wahrnehmen. Das vernunftbetonte Denken sieht nur die tote Materie. Dabei können wir die Lebendigkeit in allem entdecken! Das führt zu einer anderen Art von Wissen und Erfahrung, aber auch zu mehr Lebensfreude. Unser Leben kann reicher werden, wenn wir diese Lebendigkeit wahrnehmen.

Gibt es einen Tipp, was jedeR für uns für mehr Wildnis machen kann?

Wer einen Garten besitzt, kann dort versuchen, weniger einzugreifen. Der Garten muss nicht „verwildern“, aber statt alles bis ins Kleinste zu kontrollieren, kann man mehr Toleranz und Gelassenheit üben – ja sogar Freundschaft schließen – mit den Lebewesen, die sich den Garten mit einem teilen. Da kann der Garten zum spannenden Übungsfeld werden, um bereits dort in ein Gleichgewicht zu kommen, ohne dass der Mensch zwangsläufig dominieren muss.

Bleiben Sie als Autorin an dem Thema dran?

Auf jeden Fall!

Literatur


Buchcover von Rewilding
Foto: Aufbau Verlag

Böcker, Simone

Rewilding – Auf der Suche nach einem Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur

Aufbau, Verlag, 18.04.2023, Hardcover, 237 Seiten

ISBN: 978-3-351-04183-0


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