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Nationalpark Kellerwald-Edersee
Hartnäckig hatte der Naturschutz viele Jahre gedrängt, endlich auch im Areal der bodensauren Hainsimsen-Buchenwälder, dieser einst am weitesten verbreiteten Waldgesellschaft, ein vorzeigbares Großschutzgebiet auszuweisen. Die Erwartungen richteten sich auf das Buchenland Hessen, wo von Natur aus die Buche auf mehr als 90 Prozent der Fläche vorkommt und zwei Drittel davon der Hainsimsen-Buchenwald beherrschte. Im Herzen des globalen Buchenareals gelegen, ist Hessen mit 42 Prozent Bewaldung heute nicht nur das waldreichste Bundesland. Auch der mit 40 Prozent außergewöhnlich hohe Staatswaldanteil und das reife Alter seiner staatseigenen Buchenwälder, nahezu 30 Prozent älter als 120 Jahre, sprechen für Hessen.
Vom feudalen Jagdgatter zum Waldschutzgebiet
Als besonders geeignet bot sich ein Waldschutzgebiet im nördlichen Kellerwald an: die einsamen Ederberge, völlig frei von Siedlungen und Verkehrsstraßen, unmittelbar südlich des 27 km langen Ederstausees. Hier hatte sich das Land Hessen im »Gatter Edersee« ein exklusives Hochwildrevier geleistet. Ursprünglich Hofjagdgebiet der Fürsten Waldeck, war es seit 1900 eingezäunt, um Wildschäden in angrenzenden Fluren zu vermeiden und zu unterbinden, dass aufwändig gehegte Kapitalhirsche in angrenzende Reviere abwandern. Nach Inkrafttreten des Reichsjagdgesetzes wurde der Rotwildbestand durch Aussetzen von Muffelwild und Damwild, zweier Exoten, »angereichert«. Die Schäden an der Waldvegetation durch den maßlos überhegten Wildbestand wurden gravierend. Erst nach 1987 stufte man aufzunehmenden öffentlichen Druck das privilegierte »Wildschutzgebiet« in ein »Waldschutzgebiet« um und wies es zugleich als Landschaftsschutzgebiet mit einer Reihe größerer Naturschutzgebiete aus. Zum 1. Januar 2004 trat die Verordnung für einen 5724 ha großen Nationalpark Kellerwald-Edersee in Kraft, der 15. in Deutschland. Vorausgegangen war eine jahrelange Auseinandersetzung zwischen einer von großen Umweltverbänden unterstützten Initiativgruppe und der Landesforstverwaltung, begleitet von einer zunächst mehrheitlich ablehnenden Haltung der ortsansässigen Bevölkerung. Wie in anderen Hochwildjagdgebieten waren die Wälder aus Rücksicht auf die Jagd nur extensiv bewirtschaftet worden. Nach wie vor herrschen mit stolzen 71 Prozent Laubwälder vor, davon 60 Prozent Buche. Auf rund 30 Prozent der Fläche fand bereits seit längerer Zeit keine nennenswerte Holznutzung statt, auf extremen Steillagen, wo sich Forstwirtschaft nicht lohnte, ebenso in Naturschutzgebieten und Naturwaldreservaten. 2011 erfuhr das urigste Viertel dieses Nationalparks als »Weltnaturerbe« von der UNESCO höchste Anerkennung, unter den 5 deutschen Teilgebieten das einzige aus den alten Bundesländern.
Am Wooghöllensporn stehen im Nationalpark viele knorrige und moosbewachsene Bäume, die sinnbildlich für die alten Buchenwälder der Mittelgebirge stehen.
Die Buche erreicht an felsigen Steilhängen ihre natürliche Waldgrenze und bildet fast mystisch wirkende Baumgestalten. Zum Vorschein kommen urige Buchen-Naturwaldreste, Eichen-Trockenwälder sowie Block- und Schluchtwälder.
Buchenwaldschätze im Rheinischen Schiefergebirge
Der Naturraum Kellerwald erstreckt sich auf einem ca. 400 km2 großen, reich bewaldeten Mittelgebirgszug zwischen Eder und Schwalm im nordhessischen Bergland. Geologisch zählt er zum Hauptmassiv des Rheinischen Schiefergebirges, als dessen östlicher Ausläufer er in die hessische Senke ragt. Den geologischen Untergrund bilden ziemlich einheitlich erdurzeitliche Tonschiefer und Grauwacken aus dem Karbon, die überwiegend zu flachgründigen Silikatböden verwittern. Ein bewegtes Relief zwischen 200 m auf dem Spiegel des Edersees und 626 m auf dem Traddelkopf gestaltet das Gebiet ungemein vielfältig mit unterschiedlichsten Standorten. Der Hainsimsen-Buchenwald ist die vorherrschende Waldgesellschaft des Kellerwaldes. Auch wenn im Schatten der ausgedehnten Hallenbestände nur eine kärgliche Bodenvegetation gedeiht, so sind doch Unterschiede erkennbar. Neben der typischen, durch die Weiße Hainsimse charakterisierten Ausbildung erkennt man verarmte Varianten an Drahtschmiele und Heidelbeere, nährstoffreichere am meterhohen Flattergras, wegen seiner Samenkörner auch Waldhirse genannt, und die frischeren am Auftreten von Farnen. Diese bodensauren Buchenwälder sind besonders typisch ausgeprägt in den Naturschutzgebieten Ruhlauber und Arensberg, Dicker Kopf und Rabenstein, am Traddelkopf und nebenan im Naturwaldreservat Locheiche. Das bewegte Relief bedingt eine Vielzahl von Sonderstandorten. Kleinflächig kommen anspruchsvollere Buchengesellschaften vor, so in Mulden oder an Hangfüßen Waldmeister- und Zahnwurz-Varianten. Auf sonnigen Felsrücken kann die Buche bis zum Krüppelwuchs geschwächt sein. Örtlich wird sie dort vom bodensauren Eichen-Trockenwald mit Winterlinden vertreten. Selbst Elsbeeren, Wildbirnbäume und besonders zahlreich die Mehlbeeren können hier überleben. So richtig urwüchsig wird es im Norden, wo die ruhigen Bergkuppen jäh zum Edersee abfallen. Tief zwischen felsigen Graten eingekerbte Bachtälchen, feuchte Senken, Schluchten und von Felsbrocken übersäte Abhänge. Hier behauptet sich der Bergahorn-Bergulmen-Hang- und Blockschuttwald. Heute schon vermitteln urige, totholzreiche Bestände in den schwer zugänglichen Einhängen Urwaldempfindungen, z. B. in den Naturschutzgebieten Ringelsberg und Arensberg. Erlen-Eschen-Säume begleiten die zahlreichen unverbauten Mittelgebirgsbäche, in deren Oberlauf der lebend geborene Nachwuchs der Feuersalamander sein Larvenstadium verbringt. Schmale verträumte Wiesentälchen mit abwechslungsreicher Vegetation gliedern die Waldlandschaft. Man will sie künftig zum Teil durch Mahd offenhalten, die übrigen der Nationalparkidee gemäß der natürlichen Entwicklung zurück zum Wald überlassen. Vor allem im Westen des Schutzgebietes, etwa am Fahrentriesch und an der Kuppe bei Altenlotheim, erinnern Reste von Wacholderheiden und Magerrasen, kleinflächig am Heiligenstockdriesch und im Naturschutz gebiet Rabenstein letzte Hutewald-Zeugen, an die Waldweidewirtschaft früherer Zeiten, über die man auf einem waldhistorischen Lehrpfad am südlichen Nationalparkzugang bei Frankenau Näheres erfährt.
Urwaldrelikte und Erlebnisweg
Bereits bisherige wissenschaftliche Befunde bei Holzpilzen und Holz bewohnenden Insekten lassen erahnen, welche Artenschätze die alten Buchenbestände bergen. Zu den 151 beschriebenen Pilzarten zählen an mächtigen Buchenleichen der Ästige Stachelbart und Beringte Schleimrübling, an alten Eichen der Leberreischling und Mosaikschichtpilz. Unter den bisher bestimmten Totholzkäfern ist der für urige Buchenwälder typische Kopfhornschröter als Bewohner vermulmter Buchenstämme verbreitet. In totholzreichen Örtlichkeiten wurde sogar die Bockkäferart Necydalisulmi entdeckt, die als ausgesprochenes Urwaldrelikt gilt. Als schöne Rarität fand man den Variablen Edel-Scharrkäfer aus der Familie der Blatthornkäfer. Die Käfer besuchen im Sommer blühende Sträucher wie den Holunder. An den abschüssigen, kaum zu bewirtschaftenden Einhängen zum Nordufer des Edersees, also knapp außerhalb der Nationalparkgrenze, blieben bemerkenswerte Naturwälder erhalten. So überdauert dort auf warmtrockenen, felsigen Extremstandorten ein mehrhundertjähriger Traubeneichenwald, dessen krüppelwüchsige Bäume nur wenige Meter hoch sind. In Mulmhöhlen und Strünken dieses urwaldartigen Bestandes kommen auch Eremit und Hirschkäfer vor. Der Knorreichenstieg erschließt das Naturschutzgebiet Kahle Hardt an der Südwestflanke der Halbinsel Scheid. Dieser Pfad wurde zu einem 60 km langen Urwald-Erlebniswegrings um den Edersee erweitert, der die urwüchsigsten Waldbilder zugänglich macht.
Grauspecht, Schwarzstorch und Wespenbussard
Die Vogelwelt des Kellerwaldes bietet das Arteninventar, das man von Buchenwäldern in Mittelgebirgslagen erwarten kann. Vollständig vertreten sind die typischen »Holz bewohnenden« Vögel, allein die Spechte mit 6 Arten. Besonders hervorzuheben ist der Grauspecht, der in den norddeutschen Tieflandbuchenwäldern fehlt, im Bergland jedoch der Charakterspecht alter und totholzreicher Buchenbestände ist. In den geräumigen Höhlen der Schwarzspechte brüten im Kellerwald die geselligen Dohlen in einigen Kolonien. Die unverkennbaren Rufe der Hohltauben aus der Tiefe alter Buchen bestände gehören bis weit in den Herbst hinein zum Grundton der waldtypischen Tierstimmen. Der Raufußkauz brütet hier in ständig wechselnder Dichte, streng abhängig von der Häufigkeit von Gelbhalsmaus und Rötelmaus, seiner wichtigsten Beutetiere. Von den Großvögeln sind seit einigen Jahren Schwarzstorch und Kolkrabe als Brutvögel in die weiten, stillen Buchenberge des Kellerwaldes zurückgekehrt. Der Habichthorstet im Schutz geschlossener Buchenaltbestände. Der Wespenbussard bevorzugt lichte Altbestandsreste mit Buchennaturverjüngung sowie Waldwiesen in der Nähe zur Wespenjagd. Auch Rot- und Schwarzmilan bauen hier ihre Horste. Ihr Jagdrevier ist der Edersee, wo sich auch der Fischadler regelmäßig in den Zugzeiten als Nahrungsgast einstellt. Rufe des in Hessen sich lebhaft ausbreitenden Uhus werden gelegentlich gehört. Seit 100 Jahren verschwunden ist das Haselhuhn, das in anderen Teilen des Rheinischen Schiefergebirges, vor allem in früheren Haubergen, noch vorkommt. Die Nationalparkverordnung sieht vor, seine Wiederansiedlung zu fördern.
Der Lebensraum des Schwarzspechts (Dryocopus martius) ist an alte Baumbestände gebunden wie bei allen Höhlenbrütern. Seine Brut- und Schlafhöhlen baut er in Altholzbestände mit mindestens 4 bis 10 Meter astfreien und über 35 cm starken Stämmen. Der ideale Höhlenbaum ist eine mindestens 100-jährige Buche mit einem Stammdurchmesser von 40 bis 70 cm. Von den Baukünsten des Schwarzspechts profitieren viele gefährdete Höhlenbrüter wie die Dohle aber auch Wildbienen und Fledermäuse. Er ernährt sich vor allem von Insekten und Larven, die im Holz leben. Mit seinem kräftigen Schnabel zerhackt er morsche Stämme und Baumstümpfe komplett.
Probleme mit den Jagdtieren von gestern
Die großen Pflanzenfresser, vor allem der Rothirsch, dessen Hege der Kellerwald nicht zuletzt seinen naturnahen Zustand verdankt, werden noch einigen Anlass zum Kopfzerbrechen liefern. Entschieden ist bereits, dass die Jagd, die seit Jahrhunderten hier Kultstatus genoss, nach der Nationalparkverordnung von einem Wildmanagement abgelöst wird. Man wird um eine einschneidende Reduktion der Bestände nicht herumkommen. Entschieden werden muss auch, ob ein Nationalpark auf die Dauer eingezäunt sein darf und wie man es mit der künstlichen Fütterung von Wildtieren hält. Kein Zweifel sollte darüber bestehen, dass Muffel- und Damwild als faunenfremd so rasch wie möglich entfernt werden. Es bliebe dann mehr Lebensraum für den heimischen Rothirsch. Der Hirsch wird zur viel bestaunten Besucherattraktion, wenn im Herbst aus den Tiefen des nächtlichen Kellerwaldes seine weithin unüberhörbaren röhrenden Brunftschreie dringen. Der unkundige Laie reagiert überrascht, ja zutiefst erschrocken über ein unerwartetes Wildniserlebnis in seiner vermeintlich so vertrauten zivilisierten Umwelt.
Erfolgsgeschichte eines kleinen Bären
Zeitgleich mit Muffel- und Damwild wurde im Kellerwald ein weiterer Fremdling eingeführt, der Waschbär aus Nordamerika. Im April 1934 hatte man hier in der Nähe einige dieser Kleinbären ausgesetzt, die sich dann auf ganz Deutschland und über den Rhein hinweg nach Westeuropa ausbreiteten. Heute werden allein in der Bundesrepublik jährlich 100 000 dieser putzigen Tiere von Jägern getötet, überwiegend in Fallen, die meisten hier in Hessen. Die Jagdstrecken und wohl ebenso die Population dieses anpassungsfähigen Allesfressers steigen geradezu unheimlich. Man wird sich wohl oder übel auf Dauer mit der Existenz des lebenstüchtigen Neubürgers abfinden müssen. Die ausgerottete heimische Wildkatze konnte erstmals wieder 2007 nachgewiesen werden, ab 2009 sogar Fotonachweise mit Nachtsichtkameras. Im Wildtierpark beim BuchenHaus kann man Wildkatze, Luchs und Fischotter bewundern.
Märchenwälder
Am waldhistorischen Lehrpfad erinnert eine steilwandige Grube, die »Wolfskaule«, daran, wie man im Kellerwald einst versucht hatte, der Wolfsplagen Herr zu werden. Der letzte Wolf soll hier im Waldecker Land im Winter 1819 geschossen worden sein. In dieser Zeit lebten in Kassel die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm, nachdem sie den ersten Teil ihrer berühmten Sammlung der Kinder- und Hausmärchen abgeschlossen hatten. Bäuerinnen, Holz- und Kräuterweibchen erzählten ihnen, was die geheimnisvollen Tiefen hessischer Buchenberge an Sagen, Mythen und Märchen bewahrten. Es war der Wald des Eisenhans, von dem es heißt: »… und er lag da in tiefer Stille und Einsamkeit und man sah nur zuweilen einen Adler oder Habicht darüber hinfliegen.
Auszug aus: Urwälder – Deutschland archaische Wälder von Georg Sperber/Stephan Thierfelder. Erschienen im BLV Verlag, ISBN 978-3-8354-0399-4