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Foto: Naturwald Akademie
Naturschutz als Chefsache?
Mit dem Artenschutz in deutschen Wäldern ist es nicht weit her. In den Forstverwaltungen heißt es seit Jahrzehnten „Forstwirtschaft ist gleich Naturschutz“. Tatsächlich aber gehen durch die intensive Nutzung und das Fällen alter Baumbestände viele Habitate von Fledermäusen oder Vögeln verloren. Aktuelle Gerichtsurteile fordern jetzt mit Nachdruck mehr Naturschutz im Wald ein. Die Forstwirtschaft wird reagieren müssen.
Was den Schutz von natürlichen Lebensräumen angeht, sind sich die europäischen Nationen eigentlich einig: Seit 1992 gilt in der Staatengemeinschaft die Richtlinie „92/43/EWG“ – besser bekannt als Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH-Richtlinie). Sie verpflichtet alle Staaten, ein Netzwerk besonders schützenswerte Gebiete an die EU-Kommission zu melden und für die Zukunft durch Managementpläne zu schützen. Doch Deutschland tut sich bis heute schwer mit dem Schutz des europäischen Naturerbes – oft, weil wirtschaftliche Interessen dagegenstehen. Zunächst zögerten die deutschen Behörden die Meldung der schützenswerten Gebiete über Jahre hinaus. Zudem fehlt es bis heute vielerorts (siehe unten, Quelle 1) an konkreten Managementplänen, mit denen die FFH-Vorgaben endlich in pragmatische Naturschutzmaßnahmen gegossen würden.
Über 20 Fledermausarten in Deutschland
Die unterschiedlichen Jagd- und Lebensweisen der verschiedenen Fledermäuse führen letztlich dazu, dass man die meisten Spezies in naturnahen Wäldern findet. Nur hier finden sie, laut Fledermausexperten wie Markus Dietz, ein buntes Mosaik aus offenen und geschlossenen Flächen als abwechslungsreiche Jagdgebiete. Und ebenso wichtig: Baumhöhlen als Fledermaus-Quartier.
Das gilt vor allem auch für die deutschen Waldgebiete. „In den meisten Forstbetrieben gilt bis heute die Devise, dass die gute forstliche Praxis gleichbedeutend mit Naturschutz ist“, sagt Markus Dietz, Geschäftsführer des Instituts für Tierökologie und Naturbildung in Gonterskirchen bei Gießen. In Sachen Waldmanagement ist das quasi ein Freibrief: Ganz gleich, welche Maßnahme ein Forstbetrieb durchführt – sei es die intensive Nutzung alter Buchen- und Eichenbestände oder das Anlegen vieler Rückegassen – im Kielwasser der Forstarbeit werde der Naturschutz gleich mitgeliefert; so die Logik. Im Niedersächsischen Leitfaden zu Natura 2000 im Wald heißt es beispielsweise, dass es zur Erfüllung der europäischen Verpflichtungen das Wichtigste sei, dass „die anerkannt gute Bewirtschaftung und Entwicklung unserer Wälder […] auf ganzer Fläche fortgeführt wird.“ (siehe unten, Quelle 1) Von konkreten Managementplänen, wie sie das europäische FFH-Reglement einfordert, keine Spur.
Zerstörte Fledermaushabitate
Als Fledermausexperte macht Markus Dietz in seiner täglichen naturschutzbiologischen Arbeit andere Erfahrungen. Die gute forstliche Praxis in den FFH-Gebieten reiche bei weitem nicht aus, um die Lebensräume zu schützen, sagt er. Bechsteinfledermäuse zum Beispiel sind auf alte und weitgehend geschlossene Baumbestände angewiesen. Sie leben in Spechthöhlen oder ausgefaulten Astlöchern und jagen nahe am Quartierbaum unter dem dichten Blätterdach vom Kronenbereich bis zum Boden nach Insekten.
Markus Dietz kennt viele Fälle, in denen man alte Baumbestände „endgenutzt“ hat und allenfalls einige wenige Habitatbäume stehen ließ. „Wo Quartierbäume in einem sonst stark aufgelichteten Gebiet stehen bleiben, verlieren die Fledermäuse trotzdem ihren Lebensraum. Sie brauchen einen strukturreichen und kohärenten Wald, um zu überleben“, sagt Dietz. Die Kielwassertheorie, nach der der guten forstlichen Praxis der Naturschutz einfach folge, greife ihn vielen Fällen also nicht. Dennoch stützt das Bundesnaturschutzgesetz dieses Vorgehen bis heute: Demnach ist ordnungsgemäße Forstwirtschaft so lange möglich, wie der Zustand oder Lebensraum einer Population nicht erheblich beeinträchtigt wird. Solange also niemand nachweisen kann, dass die Forstarbeiten zu einer erheblichen Beeinträchtigung führen, werden sie durchgeführt. Das Problem: Kaum jemand weiß, wo sich die versteckten Fledermauskolonien befinden. Damit werden sie bei Forstarbeiten leicht zerstört.
Druck von den Gerichten
Doch diese recht robuste Auslegung des FFH-Schutzes in Deutschland könnte in naher Zukunft an ihre Grenzen stoßen. Denn gleich mehrere Gerichtsurteile haben unlängst gezeigt, dass die einfache Gleichung „Gute fachliche Praxis gleich Naturschutz“ nicht aufgeht. Einem Fanal kommt das Urteil des Europäischen Gerichtshofs gleich, der am 4. März 2021 den Kahlschlag eines Waldgebietes in Schweden untersagte (Europäischer Gerichtshof, 4.3.2021: Rechtssache C-473/19 und C-474/19). Die Nationale Forstverwaltung Schweden hatte den Kahlschlag in der Nähe der südschwedischen Gemeinde Härryda genehmigt, weil er nach Ansicht der Behörde nicht gegen die schwedische Artenschutzverordnung verstoße. Dagegen klagten mehrere Naturschutzverbände. Der Europäische Gerichtshof gab ihnen Recht und untersagte den Kahlschlag. Der Europäische Gerichtshof verbietet damit explizit, bei einem forstwirtschaftlichen Eingriff das Sterben einzelner Individuen billigend in Kauf zu nehmen. Jedes Exemplar sei zu schützen, bei Vögeln auch jedes Gelege.
Wald als Lebensraum
Das Große Mausohr (myotis myotis) ist, mit einer Flügelspannweite zwischen 35 und 43 Zentimetern, die größte europäische Myotis-Art. Sie fliegt am Waldrand oder Lichtungen zwischen Bäumen herum, dabei wird auf die Raschelgeräusche der am Boden laufenden Beute gehört.
Bundesnaturschutzgesetz auf tönernen Füßen
Damit geht der Europäische Gerichtshofs deutlich über die Logik des Bundesnaturschutzgesetzes hinaus, das lediglich vorsieht, eine regionale Population zu schützen – nicht aber einzelne Individuen. Die Biologin Anke Schumacher und der Jurist Jochen Schumacher vom Institut für Naturschutz und Naturschutzrecht Tübingen kommen in einer Bewertung des Gerichts-Urteils (siehe unten, Quelle 4) zu dem Schluss, dass derartige nationale Regelungen, die nur die Population aber nicht das Individuum berücksichtigen, „gegen europarechtliche Vorgaben verstoßen.“ Damit sei jetzt eine Anpassung des Bundesnaturschutzgesetzes erforderlich.
Rote Karte für die Stadt Leipzig
Markus Dietz wertet das Urteil als großen Erfolg. Allerdings sei das noch nicht alles. „Im Grunde müssten künftig für bestimmte Bewirtschaftungsmaßnahmen in Wäldern genauso wie für Baumaßnahmen vor einem Eingriff die Folgen abgeschätzt werden.“ Davon sei man mit der bisherigen Praxis getreu dem Motto „Forstwirtschaft gleich Naturschutz“ noch weit entfernt. Doch auch hierzu gibt es ein wegweisendes Gerichtsurteil: Am 9. Juni 2020 hat das Sächsische Oberverwaltungsgericht in Bautzen der Stadt Leipzig untersagt, in den FFH-Gebieten „Leipziger Auensystem“ und „Leipziger Auwald“ „Sanitärhiebe, Femelhiebe/Femelungen, Schirmhiebe und Altdurchforstungen“ zu vollziehen, bevor eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt wurde (siehe unten, Quelle 3 u.4) . Zumindest dort geht ohne ein Naturschutz-Gutachten nichts mehr.
Mit solchen Gutachten ließe sich nach Ansicht von Markus Dietz ein grundlegendes Problem entschärfen: Über viele Populationen der meisten waldbewohnenden Arten ist heute zu wenig bekannt. „Es gab für die Forstwirtschaft bisher einfach nicht die Notwendigkeit, die Bestände systematisch zu erfassen“, sagt Dietz. „Deutschlandweit kennen wir die Populationen des Grauspechts oder etwa des Schwarzstorches einigermaßen, aber für Fledermäuse in Wäldern liegen kaum Daten vor.“ Genau solche Daten aber sind laut FFH-Richtlinie die Voraussetzung für ein Management der FFH-Gebiete. „Es fehlt an Zahlen und somit auch an verbindlichen Messgrößen und Werten, um überhaupt den guten natürlichen Zustand eines Waldes zu definieren.“ In Sachen FFH-konformem Waldmanagement steht Deutschland also noch immer ganz am Anfang. Daher habe die Europäische Kommission Deutschland auf dem Kieker und Klage eingereicht, sagt Markus Dietz: „Deutschland ist angezählt und läuft Gefahr, künftig mit hohen Strafzahlungen sanktioniert zu werden. Insofern muss das Thema Naturschutz im Wald mit deutlich mehr wissenschaftlichen Daten hinterlegt werden.“
Budgets für systematische Erfassungen
Markus Dietz wüsste, wie man anfangen kann. „Der Staat muss den Forstverwaltungen finanziell helfen, um in einem ersten Schritt die Waldtierarten in großem Umfang zu erfassen.“ Das wäre die Grundlage für ein echtes Waldmanagement, wie es die FFH-Richtlinie schon seit 1992 vorsieht – und für Gutachten, mit denen sich untersuchen lässt, wie nachteilig eine starke Auflichtung oder eine zunehmende Mechanisierung der Holzernte tatsächlich sind. 30 Jahre lang ist nichts passiert. Jetzt, nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs, wäre ein guter Zeitpunkt, im Wald mit konkretem Naturschutz zu beginnen.
Literatur
Quellen und weiterführende Literatur:
- Dietz, M. et. al, 2020: Waldfledermausschutz in Deutschland: Sichern FFH-Gebiete und Alt- und Totholzkonzepte den Erhaltungszustand geschützter Fledermausarten? Natur und Landschaft, 4, 162-171.
- Urteil des Sächsichen Oberverwaltungsgerichtes Bauzen
- Juristische Urteilsanmerkung: Schumacher, J. OVG Bautzen: Rechtswidrigkeit von forstwirtschaftlichen Maßnahmen aufgrund einer unterlassenen FFH-Verträglichkeitsprüfung . NuR 42, 539–541 (2020).
- Schumacher, A. und Schumacher, J., 2021: EUGH bestätigt strenges Schutzregime für europäische geschützte Arten. Naturschutz und Landschaftspflege, 53, 4.
- Heimat für die Räuber der Nacht – Fledermäuse im Wald