Lesetipp
„Sie essen Licht. Ist das nicht genug?“
Zoë Schlanger schreibt so kundig wie poetisch über die geheimnisvolle Welt der Pflanzen
Dieses Buch beschreibt eine Welt der Wunder. Dort gibt es Poesie und Solidarität, Wandelbarkeit und Verbundenheit, Erinnerung, unendliche Kreativität und eine dramenlose Ko-Existenz von Werden und Vergehen. Diese Welt tröstet und heilt, wenn die alltägliche Welt voller Zerstörung ist. Sie lehrt uns viel über das Leben, den Tod, die Hoffnung und die Geduld jener, denen Zeit nichts bedeutet. Es ist die Welt der Pflanzen, und sie ist nicht irgendwo am Rande von Nimmerland, sondern genau dort, wo auch wir sind.
Der Wissenschaftsjournalistin Zoë Schlanger ist mit „Die Lichtwandler“ ein großartiges und bezauberndes Buch über Botanik gelungen, in dem es nicht allein um Fakten, sondern vor allem um das Staunen geht. Schon das Zitat zu Beginn des Buches weist den Weg in diese Wunderwelt. Es stammt von dem 1989 verstorbenen amerikanischen Ethnobotaniker Timothy Plowman. „Sie können Licht essen. Ist das nicht genug?
Pflanzen mit Bewusstsein
Ja, das ist es. Doch die Pflanzen von denen Schlanger so kundig wie proaisch erzählt, können mehr. Und dieses Mehr macht sie zum Schöpfer unserer Existenz auf diesem Planeten. Sie wandeln das Licht in den Stoff, den alles Leben braucht. Vor allem jetzt, wo diesem Leben der Abgrund der Klimakatastrophe droht. Die Anpassungsfähigkeit, Überlebenstechniken der Pflanzen, ihre Fähigkeit, sich zu arrangieren, sind bei Schlanger Zeugnis eines Bewusstseins und einer Handlungsfähigkeit, zu der wir Menschen in diesem Maße nicht fähig sind. Schlangers Reisen in die Welt der Botanik zu folgen und dabei Wundern zu begegnen, an denen wir sonst achtlos vorbeigehen, ist so faszinierend, dass auch botanische Laien schon auf den ersten Seiten Schlangers leichtfüßiger Prosa erliegen.
Das allumfassende Thema dieses Buches steht im englischen Original im Untertitel . „Wie die ungesehene Welt der Pflanzen uns ein neues Verständnis des Lebens auf der Erde eröffnet.“ Das klingt nach Esoterik – und wurde vielleicht deshalb in der deutschen Übersetzung weggelassen – ist es aber nicht. Schlanger ist, um die Intelligenz der Pflanzen zu beweisen, jahrelang durch die Welt gereist, hat endlos viele Bücher gelesen, an entlegenen Orten die Pflanzenwelt studiert, Wissenschaftler getroffen und die neusten und gesicherten Erkenntnisse der Forschung zusammen getragen.
Anpassung und Gedächtnis
Da ist zum Beispiel ihre Reportage aus dem Botanischen Garten in Berlin. Dort trifft sie einen Forscher, der ihr von Nasa poissoniana erzählt, einem Blumennesselgewächs, das ursprünglich aus den Anden kommt. Die Mitarbeiter des Botanischen Gartens haben beobachtet, wie diese Pflanze Informationen speichern und wieder abrufen kann, zum Beispiel die, in welchen zeitlichen Abständen die Hummeln zum Bestäuben kommen. Dann nämlich präsentiert Nasa poissoniana ihre Pollen, statt der Stacheln, mit denen sie Fressfeinde durchbohrt. Mehr noch: Als in Versuchen die Zeitspanne geändert wurde, passten sich auch die Pflanzen an und veränderten den Zeitraum, den sie zur Aufrichtung ihrer Staubfäden brauchten.
Solidarität gegenüber Verwandten
Schlanger erzählt auch, wie neue Forschungsergebnisse, die Pflanzen ein Sozialverhalten und eine Intelligenz zuschreiben, zunächst verrissen oder ignoriert wurden. „Der Konservatismus in der Wissenschaft ist eine Absicherung gegen falsche Ideen, aber auch der Stachel im Fleisch wissenschaftlicher Durchbrüche.“ Das erfuhr die botanische Evolutionsökologin Susan Dudley, die entdeckte, dass Pflanzen ihre Verwandten erkennen. Ihre Forschungen galten dem Nordamerikanischen Meersenf, einer flach wachsenden Strandpflanze. Dudley stellte fest, dass Pflanzen, die von einer Mutterpflanze stammen, in ihrer Ausbreitung rücksichtsvoller sind als wenn sie nicht mit ihnen verwandte Pflanzen um sich haben. Dann konkurrieren sie aggressiv um Wasser und Nährstoffe, bei Verwandten aber zeigten sie sich solidarisch. Als Dudley ihre Ergebnisse 2007 veröffentlichte, glaubte ihr fast niemand. Erst seit einigen Jahren sind immer mehr Wissenschaftler überzeugt, dass Pflanzen ein soziales Leben haben und einander durch chemische Signale erkennen.
Das System verstehen, in dem wir leben
Bevor Schlanger in die Welt der Pflanzen eintauchte, schrieb sie als Reporterin für „The Atlantic“ über den Klimawandel. Die Trostlosigkeit dieses Themas führte sie zur Suche nach einer Gegenwelt. Um die Geheimnisse der Pflanzen tief zu ergründen, kündigte sie für einige Jahre ihren Job. Heute schreibt sie wieder Reportagen, auch für die New York Times und Time Magazine.
Schlangers Buch endet mit einer Botschaft, von der man hofft, sie möge die Menschheit als Ganzes erreichen. Zu deren Wohl und zum Schutz unserer Natur. „Eine einzelne Pflanze ist ein Wunder. Eine Pflanzengemeinschaft ist Leben schlechthin, Pflanzen geben uns die Chance, das System zu sehen, in dem wir leben.“
Wie Pflanzen uns das Leben schenken
S. Fischer Verlag 2024, 443 Seiten
Hardcover, 32,00€
ISBN: 978-3-7843-5786-7
#PouredOver: Zoe Schlanger on The Light Eaters