Lesetipp
Totholz: Poesie des Vergehens
Vergehen und Poesie, das sind zwei Begriffe, die man selten in Gemeinschaft findet, und wenn, dann haftet dieser Symbiose etwas morbides, Rilke-haftes an. Es braucht Mut und Geduld, das Sterben auch als Werden zu feiern, dem Zerfall Ästhetik, der Vergänglichkeit Schönheit abzuringen.
Der Schweizer Fotograf und Künstler Sam V. Furrer hat diese Geduld aufgebracht. In seinem Bildband „Poesie der Vergehens“ dokumentiert er den Zerfallsprozess einer Fichte mit detaillierten Fotos, die so künstlerisch wie wissenschaftlich anmuten. Denn es geht Furrer in seiner Fotografie nicht allein um die Ästhetisierung des Zersetzungsprozesses, sondern auch darum, die biologische Komplexität und den ökologischen Wert eines gestorbenen Baumes zu zeigen. Totholz ist nicht tot, sondern Lebensquelle für Mikroorganismen, Pilze und Insekten, Nahrungsspender für Hunderte von Arten.
Chronik des Lebens
Im Baum eines Holzes, schreibt Furrer, können man lesen wie in einem Buch – wenn man denn die Zeichen erkennen kann. Weil Furrer das zu Beginn seiner monatelangen Arbeit an der Fotoserie nicht konnte, holte er sich Antworten von Wissenschaftlern der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) in der Schweiz. Begleitend zu den Fotos entschlüsseln deren Texte die Narben und Wunden, Widerstände und Krisen, die das Leben am Baum hinterließ und die er auch in seinem Vergehen noch preisgibt. Da ist das Harz, das Verletzungen schließt, die Überwallung, die entsteht, wenn Äste absterben, abfallen und neues Gewebe wächst. Kleine Texte über Jahresringe und ihre Entstehung, die blaugrüne Färbung, die das Pigment des Kleinsporigen Grünspanbecherlings im Holz hinterlässt und über allerlei andere Pilz- und Insektenarten, all das komplementiert Furrers Fotos in einer angenehmen und informativen Weise.
Die Magie des Details
Die Fichte, die stille Protagonistin dieses Bildbands, war lange tot, als Furrer sie an einem Strand fand. Es ist das Verdienst des Fotografen, dass man in dem, was von ihr übrig blieb, Leben und Schönheit sieht. Furrer ist mit seiner Kamera in ihr Innerstes vorgedrungen und hat ihre Geheimnisse und Verletzungen porträtiert. Diese intime Tiefe der Fotos erinnert an den Glauben indigener Gemeinschaften an die Beseeltheit von Bäumen. Furrers Bilder sind in ihrem Detail magisch und faszinierend, so sehr, dass es einen schmerzt, sie auf mattem und zu dünnem Papier gedruckt zu sehen. Ein wenig mehr Glanz würde den Fotos mehr Glorie bringen.
Der Wert natürlicher Wälder
Erfreulich hingegen ist der Anhang mit Ergänzungen und Hintergründen über die Fichte, Borkenkäfer, Totholz und Habitatbäume, Jahresringe, Insekten, Pilze und vieles mehr. Die Informationen dazu sind verständlich aufbereitet, auch für Leser, die sich bislang nie oder kaum mit dem Wald beschäftigt haben.
Sehr, sehr wünscht man dem Fotografen und der Fichte eine Ausstellung, die die volle Schönheit der Fotos präsentiert, dazu begleitet wird von den Texten der WSL. Denn beides trägt dazu bei, den Wert natürlicher Waldentwicklung und die Wichtigkeit von Totholz zu verstehen.

Sam V. Furrer: Poesie des Vergehens – Vom vielfältigen Leben in einer toten Fichte,
Haupt Verlag 2024, 206 Seiten, Bildband mit fundierten Erläuterungen, 66,00 €, ISBN: 978-3-258-08373-5