
Zum Heilen in den Wald
In Asien ist die Waldtherapie eine anerkannte Form der Gesundheitsvorsorge. In einer Studie wird jetzt untersucht, ob sich das Konzept auch auf Mitteleuropa übertragen lässt. Die bisherigen Ergebnisse sind vielversprechend.
Ein Waldspaziergang entspannt. Das ist allgemein bekannt. Man genießt die Ruhe, die gute Luft und das Grün – und kehrt ausgeruht heim. Recht neu ist in Europa die Idee, den Wald für therapeutische Zwecke zu nutzen. „Wozu eine Waldtherapie?“, könnte man sich fragen, wenn man doch jederzeit auf eigene Faust zur Erholung in den Wald gehen kann. „Zwischen einem gewöhnlichen Waldspaziergang oder einer Tour mit dem Mountainbike durchs Grüne und der Waldtherapie besteht ein riesengroßer Unterschied“, sagt Dr. Dieter Kotte, Wissenschaftler und Vorstandsmitglied der International Nature and Forest Therapy Alliance (INFTA). „Bei der Klinischen Waldtherapie werden Menschen durch professionelle Waldtherapeuten betreut, die über psychologische Expertise verfügen. Unter Anleitung werden verschiedene Übungen gemacht, damit der Wald seine volle Wirkung entfalten kann.“
Therapie im Wald
Gemeinsam mit KollegInnen der INFTA arbeitet Dieter Kotte daran, die Klinische Waldtherapie in Deutschland zu verankern. Ursprünglich stammt sie aus Asien. Das Konzept wurde seit den 1980er Jahren vor allem in Japan, in Südkorea und in China entwickelt. In Japan zum Beispiel ist schon seit längerer Zeit das Shinrin-Yoku populär, das Waldbaden. Menschen gehen in die Wälder und machen dort Entspannungsübungen. Wie der Wald auf Körper und Geist wirkt, war indes lange unklar. Erst seit etwa 15 Jahren werden in wissenschaftlichen Studien die Effekte auf die Gesundheit genauer untersucht. Inzwischen steht fest, dass die Waldtherapie den Blutdruck und die Menge des Stresshormons Cortisol im Körper senkt und beispielsweise auch entzündungshemmend wirkt.

In Zusammenarbeit mit dem Verbundpartner, Charité Berlin, sowie dem Forstbetrieb Sachsenwald, Schleswig-Holsteins, findet das erste nationale Forschungsprojekt in klinischer Waldtherapie in Deutschland und Europa statt. Das Vorhaben schafft die forst- und betriebswirtschaftlichen sowie medizinischen Grundlagen, den Wert und die Bedeutung des deutschen Waldes mithilfe der klinischen Waldtherapie als öffentlichem Gesundheitskonzept nachhaltig zu steigern.
Ein Jahr lang hat Dieter Kotte zusammen mit seinem Team und Experten für Naturheilkunde von der Berliner Charité-Klinik in einer Studie untersucht, ob sich auch hiesige Wälder für die Waldtherapie eignen. In vier deutschen Wäldern – unter anderem im Sachsenwald bei Hamburg und in der Nähe von Wernigerode – haben Waldtherapeuten Gruppen von Probanden durchs Grün geführt. Vor und nach der etwa zweistündigen Therapieeinheit befragte das Team die Teilnehmer nach ihrem Befinden, wofür die Mediziner und Psychologen einen standarisierten Fragenkatalog entwickelt haben. Zudem maßen sie den Blutdruck und bei Diabetikern zusätzlich den Blutzuckerspiegel.
Die detaillierten Ergebnisse werden im November 2022 publiziert und der Öffentlichkeit präsentiert. Doch es zeichnet sich schon jetzt ab, dass die Therapie auch in Deutschland funktioniert. „Man weiß inzwischen, dass die Klinische Waldtherapie typische Effekte auslöst. Diese können wir, wie es derzeit aussieht, sehr wahrscheinlich auch mit unserer Studie bestätigen“, sagt Dieter Kotte. „Beispielsweise nimmt das Stressniveau in der Regel bereits nach zwei Stunden Therapie um rund 40 Prozent ab. Das sehen wir auch in den von uns untersuchten Gruppen.“
Langsam für das Immunsystem schreiten
Ein Grund dafür ist, dass eine Therapieeinheit das Tempo des Alltags enorm drosselt. Die Gruppe schreitet zunächst im Schneckentempo durch den Wald. Viel mehr als einen Kilometer pro Stunde kommt sie nicht voran. „Dieses langsame Gehen empfinden viele zunächst als eigenartig. Allein würde man deutlich schneller laufen“, sagt Kotte. Hinzu kommen Atemübungen, die ebenfalls den Puls drosseln, und Gymnastikeinheiten. Dann wieder konzentrieren sich die Teilnehmer ganz auf ihre Sinne. Sie riechen und hören – und berühren auch Bäume. Dieter Kotte betont, dass das nichts mit esoterischem Bäume-Umarmen zu tun habe.
Und die internationalen medizinischen geben ihm recht: Ein aktueller Übersichtsartikel, ein Review, der die Ergebnisse von 33 Studien zum Thema Waldtherapie ausgewertet hat (Siehe Quellen unten), kommt zu dem Schluss, dass sie nicht nur entzündungshemmend ist, sondern auch anti-asthmatisch und Allergie-lindernd wirkt und zudem die Körperabwehr stärkt – unter anderem, weil sie die Bildung von Abwehrzellen des Immunsystems fördert.

Die Klinische Waldtherapie ist in Japan (Shinrin-yoku 森林 療法) und Südkorea (Sanlimyok 산림욕) als wirksame öffentliche Gesundheitspraxis seit Jahrzehnten etabliert. Die Regierungen haben sich für die Förderung der Klinischen Waldtherapie in allen Altersgruppen eingesetzt, um typischen Zivilisationskrankheiten vorzubeugen bzw. sie zu behandeln. Dies hat laut Infta.org diesen Ländern Milliarden an Gesundheitsausgaben erspart: In Südkorea wurden die finanziellen Vorteile allein 2013 auf über 1,4 Mrd. USD geschätzt. In Neuseeland und Kanada gibt es mittlerweile Grüne Rezepte bei Ärzten, die ihren Patienten Bewegung in der Natur verschreiben.
Terpene als Gegenspieler von Tumoren
Bekannt ist heute auch, dass die Effekte zum Teil psychologischer, zum Teil chemischer Art sind. So geben Bäume über ihre Blätter verschiedene Substanzen ab, die krebshemmend wirken. Dazu zählen vor allem die Terpene, eine sehr vielfältige Klasse von kohlenstoffhaltigen Molekülen. Zu diesen Terpenen gehört unter anderem das d-Limonen, das die Vervielfältigung von Darmkrebszellen hemmt.
Die südkoreanische Regierung hat inzwischen reagiert. Waldtherapie wird als Kassenleistung angeboten. Heute gibt es dort Natural Healing Center, spezialisierte Kurkliniken, die die Waldtherapie anbieten. Wie in einer deutschen Kurklinik werden diese Therapieeinheiten durch andere Anwendungen ergänzt. „Anhaltender Stress ist in den Industriegesellschaften einer der großen Auslöser ernster Erkrankungen – insbesondere kardio-vaskulärer Probleme“, sagt Dieter Kotte. Burnout etwa sei nicht unbedingt eine Frage des Alters, sondern vor allem des Stressniveaus. „Man gewinnt viel, wenn man das Stresslevel verringert.“
Weitere Studien folgen
Die aktuelle Studie wurde durch den Waldklimafonds unterstützt, der von zwei Bundesministerien finanziert wird. Sobald die Ergebnisse vorliegen, soll eine größere Studie für ganz Deutschland vorbereitet werden, die Dieter Kotte und seine Kollegen in Zusammenarbeit mit den Krankenversicherungen durchführen wollen. So muss beispielsweise weiter erforscht werden, wie lang die heilsamen Effekte anhalten oder wie oft eine Waldtherapie wiederholt werden sollte.
Auch auf europäischer Ebene tut sich einiges. Angesichts der Entwicklung in Südkorea ist Dieter Kotte zuversichtlich, dass Waldtherapie in den kommenden Jahren auch hier zu einer Selbstverständlichkeit wird – und dass Menschen sie als Kassenleistung werden in Anspruch nehmen können. „Ich erwarte auch, dass wir in den kommenden Jahren einen großen Bedarf an Medizinern und Psychologen mit waldtherapeutischem Schwerpunkt haben werden“, sagt Dieter Kotte. „Insofern wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, die Ausbildung zu fördern.“
Quellen
- Hansen et al: Shinrin-Yoku (Forest Bathing) and Nature Therapy: A State-of-the-Art Review, Int J Environ Res Public Health. 2017 Aug; 14(8): 851
- Kyoung Sang Cho et al: Terpenes from Forests and Human Health, Toxicological Research 2017;33:97−106, April 2017
- Beachten Sie bitte auch unsere Quellen in folgendem Beitrag: Zur Gesundheitswirkung von Waldlandschaften