Herbstwald

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Das Artenreiche Penthouse im Wald

Die Artenvielfalt in Baumkronen ist atemberaubend. Hunderte von Insekten und Spinnenarten sind dort heimisch. Dem Spaziergänger entgeht diese Vielfalt meist – und selbst Forscher wissen bis heute nur zu einem Teil, wie wichtig der Lebensraum Baumkrone ist.

Die Baumkrone ist der auffälligste Teil eines Baumes. Weil sie ihm seine Gestalt verleiht und weithin sichtbar ist. Und doch ist die Baumkrone bis heute ein Stück weit rätselhaft. Sie liegt zu weit oben, kann daher nur mit Hubgeräten oder einer Kletterausrüstung erreicht werden – und ist damit weit weniger erforscht als das Leben am Waldboden. In den 1980er-Jahren kamen Biologen erstmals auf die Idee, im südamerikanischen Regenwald Baumkronen näher zu untersuchen. Sie bauten Kräne auf, landeten mit Ballonen auf dem Blätterdach, um genau zu untersuchen, wie viele Arten in den oberen Etagen tropischer Bäume leben. Die Forscher waren überwältigt: Sie entdeckten Tausende neuer Arten.

Hummel in Blüte
Foto: Susanne Böll, LWG Bayern

Zuviel zum Zählen – auf fast 30 Bäumen haben die WissenschaftlerInnen insgesamt 90.000 Gliedertiere – also Insekten und Spinnen gesammelt. Davon machten Zweiflügler, Fliegen und Mücken, rund 50 Prozent aus. Hinzu kamen u. a. 58 Zikadenarten, 33 Spinnenarten und 57 Wildbienenarten – was etwa einem Zehntel aller deutschen Wildbienenarten entspricht. Am Ende waren es so viele Tierarten, dass sie trotz Zuarbeit nicht alle bestimmt werden konnten.

Die Begeisterung für die Arbeit im Dach der Wälder schwappte in den 1990er-Jahren nach Europa. Endlich machten sich Zoologen daran, auch in der alten Welt den Lebensraum Baumkrone genau zu untersuchen – und auch hier war man überwältigt von der ungeheuren Zahl an Tieren – Käfern, Schmetterlingsraupen, Spinnen, Schlupfwespen, Wanzen und sogar Schnecken, die dort oben zu finden sind.

Unüberschaubare Artenzahl

In den Kronen tummeln sich so viele Tiere, dass kaum ein Experte sie in ihrer ganzen Vielfalt überblicken kann. Und so gibt es kaum verlässliche Zahlen darüber, wie viele Tierarten eigentlich in den Baumkronen leben. „Die Fauna unterscheidet sich zum Teil stark von jener in den beiden anderen Wald-Lebensräumen, dem Holz unter der Rinde und dem Boden“, sagt Olaf Schmidt, Forstwirt und Präsident der Bayerischen Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft. „Die Kronen sind das Fenster nach außen. Hier gibt es viel Licht, aber auch sehr hohe Temperaturen, ganz anders als in den bodennahen Bereichen des Waldes darunter, die eher dunkel und feucht sind.“ Und während das Klima unten relativ konstant sei, könne es im Kronenbereich sehr starke Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht geben.

Selten gesehene Raupen und Falter

So kommen im Blätterdach viele Tierarten vor, die man in den unteren Etagen gar nicht findet. Viele pflanzenfressende Insekten zum Beispiel, viele Phytophagen, zu denen die Raupen vieler Falter und Schmetterlingsarten zählen. So gibt es Raupen und Schmetterlinge, denen man beim Waldspaziergang nie begegnen wird, weil sie nur oben in der Krone heimisch sind – die faszinierende Raupe des Buchenspinners etwa, die als junge Raupe einer Ameise gleicht, als alte aber einer Gottesanbeterin in Schreckstellung. Oder die Raupe des Nagelfleck-Falters, die auf ihrem Rücken bizarre Anhängsel trägt, die wie Antennen aufragen. In den lichten Kronen der Eichen leben mancherorts bis zu 18 Prachtkäferarten. Diese glänzenden Käfer sind sonnen-liebend, heliophil – und wie die Bienen auch niemals unten zu finden.

Alte Wälder, belebte Kronen

Was die Zahl der Tierarten in den Baumkronen angeht, will sich Olaf Schmidt nicht festlegen. „Es gibt hier kaum verlässliche Daten, weil es nicht genügend Experten, gibt, die alle Tiere bestimmen können.“ Ein Beispiel: In Deutschland gibt es rund 900 Wanzen-Arten von denen etliche in Baumkronen vorkommen. Doch fehle es an Fachleuten, die alle Arten sicher benennen könnten, sagt Schmidt. „Ich betone daher stets die gesamte Bedeutung des Waldes, in dem in Deutschland bis zu 7.000 Tiere heimisch sind – und diese verteilen sich auf die Krone, das Holz unter der Rinde und den Boden.“ Sicher sei hingegen, dass alte Wälder mit viel Laub in Kombination mit einem hohen Totholzanteil ein Garant für eine hohe Artenvielfalt seien – vor allem auch in den Baumkronen. Der Pirol etwa lebt nur in den lichten Kronen. Und Spechte nutzen den Stamm und die Kronen alter Bäume, um dort Höhlen zu zimmern, die später dann vielen anderen Tierarten als Unterschlupf dienen. Der Buntspecht zum Beispiel baut jedes Jahr eine neue Höhle, womit anderen Lebewesen regelmäßig eine Behausung zur Verfügung steht.

Buche im Sonnenschein
Foto: Florian Stahl, LWF

Ob Buche, Erle, Esche oder Eiche – in den Kronen der Bäume herrschen mitunter extreme Lebensbedinungen. „Die Kronen sind das Fenster nach außen. Hier gibt es viel Licht, aber auch sehr hohe Temperaturen, ganz anders als in den bodennahen Bereichen des Waldes darunter, die eher dunkel und feucht sind.“ Und während das Klima unten relativ konstant sei, könne es im Kronenbereich sehr starke Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht geben,“ sagt Olaf Schmidt, Forstwirt und Präsident der Bayerischen Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft.

Ein interessanter Vergleich einheimischer und fremder Bäume

Um einen Eindruck davon zu geben, wie bedeutend der Lebensraum Baumkrone ist, verweist Olaf Schmidt auf die aktuelle Arbeit seiner Kollegin Susanne Böll von der Bayerischen Landesanstalt für Weinbau und Gartenbau. Ihre Forschungsergebnisse  zeigen die enorme Artenvielfalt und auch schiere Menge an Tieren, die in Baumkronen zu finden ist. Die Biologin hat zusammen mit Kollegen der Universität Würzburg in den vergangenen Jahren erstmals die Biodiversität in den Kronen von Straßenbäumen untersucht – und dabei einheimische und nahe verwandte südosteuropäische Baumarten verglichen – Hain- und Hopfenbuchen, Eschen und Linden. Letztlich untersuchte das Team insgesamt nur 30 Bäume, die zudem mit 20 bis 30 Jahren noch relativ jung waren. Dennoch lassen die Resultate aufhorchen: Insgesamt sammelten die Biologen 90.000 Gliedertiere – also Insekten und Spinnen. Davon machten Zweiflügler, Fliegen und Mücken, rund 50 Prozent aus. Hinzu kamen unter anderem 58 Zikadenarten, 33 Spinnenarten und 57 Wildbienenarten – was etwa einem Zehntel aller deutschen Wildbienenarten entspricht. „Eine enorme Biodiversität, wenn man bedenkt, dass wir eine relativ kleine Anzahl von Bäumen untersucht haben“, sagt Susanne Böll. Sie hat einige Tiergruppen von Kollegen bestimmen lassen, die auf diese spezialisiert sind. „Am Ende sind es aber so viele Tierarten, dass wir trotz der Zuarbeit nicht alle bestimmen können – manche Schlupfwespen etwa sind nur so groß wie ein Sandkörnchen.“

Kein großer Unterschied

Das Ziel ihrer Arbeit war es, festzustellen, ob sich die Artenzahl auf den einheimischen und den südosteuropäischen Bäumen deutlich unterscheidet. Der Grund: Straßenränder sind extreme Lebensräume und mit dem Klimawandel werden diese noch trockener. Baumarten aus Südosteuropa sind an diese Bedingungen besser angepasst und sollen daher in Süddeutschland künftig verstärkt angepflanzt werden. Susanne Bölls Ergebnis: Zwischen den hiesigen und südosteuropäischen Hain- und Hopfenbuchen, Eschen- und Lindenarten gibt es nur geringfügige Unterschiede – auf der einheimischen Hainbuche etwa fanden die Experten in etwa ebenso viele Zikadenarten wie auf der südosteuropäischen Hopfenbuche. Was die Bewohner der Kronen angeht, können einheimische Baumarten an bestimmten Standorten also gegebenenfalls durch nahe verwandte fremde Arten ausgetauscht werden.

Lehren für den Wald der Zukunft

Für Olaf Schmidt sind diese Ergebnisse im Hinblick auf den Klimawandel sehr interessant. Denn aktuell wird intensiv diskutiert, wie man den Wald an den Klimawandel aktiv anpassen kann – vor allem auch mit nicht-einheimischen Bäumen, die Hitze und Trockenheit besser widerstehen – obwohl niemand weiß, wie genau der Klimawandel sich in den verschieden Regionen Deutschlands auf den Wald auswirken wird. „Die Arbeiten von Frau Böll zeigen, dass Baumkronenbewohner zwischen nahe verwandten einheimischen und zum Beispiel südeuropäischen Baumarten kaum einen Unterschied machen“, sagt Schmidt. Setze man aber auf ganz andere Baumarten, die in Deutschland keine Entsprechung haben, verlören viele Baumkronenbewohner ihren Lebensraum – etwa bei den Douglasien, den Hemlocktannen oder dem Tulpenbaum. Olaf Schmidt empfiehlt deshalb, fremde Baumarten, die hierzulande keine nahen Verwandten haben, mit Bedacht zu pflanzen: „Keinesfalls in Reinbeständen, sondern in intensiver Mischung mit heimischen Arten.“

Baumkronen entdecken

Wenn es also um die Artenvielfalt im Wald geht, gehört die Baumkrone ganz wesentlich mit dazu. Ein Grund mehr, beim nächsten Waldspaziergang einmal aufmerksam nach oben zu schauen. Wem das auf Dauer zu anstrengend ist, der keinen einen alten Naturentdeckertrick ausprobieren: Man halte sich bei der Wanderung einen Taschenspiegel vors Gesicht und richte ihn nach oben. Wenn man dann langsam vorangeht, fühlt es sich an, als streife man direkt durch das Blätterdach. Ein ganz besonderes Baumkronenerlebnis.


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