Jasmund

Foto: LFU

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Auf Kreide und Sand gebaut

Die Ostseeinseln Rügen und Usedom sind extreme Waldstandorte. Die Böden sind teils ausgesprochen nährstoffarm und immer wieder stürzen Bäume die Steilhänge hinab ins Meer. Doch entstehen mit den Hangrutschungen seit Jahrhunderten auch immer wieder neue Lebensräume.

Viele Menschen, die zur Erholung an die Ostsee oder Nordsee fahren, denken wahrscheinlich an Strände, Dünen oder vielleicht das Wattenmeer. Wälder kommen vermutlich den wenigsten Urlaubern in den Sinn. Auf den Inseln Rügen und Usedom ist das anders, denn hier gibt es etwas, das in Deutschland selten ist: ausgedehnte Küstenwälder, die die Landschaft maßgeblich prägen. Diese Wälder sind extreme Lebensräume. Der stramme Nordostwind weht Sand zu Dünen zusammen, die Pflanzen unter sich begraben. Anderswo stürzen Bäume die Steilküste hinab.

Ein Beispiel ist der Küstenwald auf Rügen, der im Nationalpark Jasmund ganz im Nordosten der Insel liegt. Seit die Landwirtschaft hier vor mehreren Hundert Jahren und später die Holzkohleproduktion eingestellt wurden, konnte sich der Wald entwickeln – trotz der ausgesprochen widrigen Umstände: Der Nordostzipfel Rügens besteht aus einer rund 600 Meter mächtigen Kreideschicht. Nur die oberen rund 120 Meter ragen aus dem Meer hervor. In steilen Klippen fällt diese „Kreidescholle“ in die Ostsee ab – unter anderem am „Königsstuhl“, dem wohl bekanntesten Kreidefelsen Deutschlands. Diese Kreideschicht ist massiv. Daher gibt es keine grundwasserführenden Schichten. Die Bäume können hier nur auf den dünnen Humuslagen wurzeln, die sich im Lauf der Zeit auf der Kreide und vor allem in Senken gebildet haben. „Für Bäume ist das wirklich ein schwieriger Standort; in den Mulden gibt es Staunässe, auf den Kuppen wiederum wenig Nährstoffe“, sagt der Geoökologe Dr. Ingolf Stodian, der beim Nationalparkamt Vorpommern für Jasmund zuständig ist. „Relativ gut kommen hier die Buchen zurecht, die in den Senken wachsen.“

Gefahr durch einsickerndes Wasser

Die Buchen nehmen etwa zwei Drittel des Niederschlags auf, den der Wind über die Ostsee heranträgt. Damit tragen sie dazu bei, den feuchten Boden zu entwässern. Für die Küste ist das ungemein wichtig. Denn ohne Baumbewuchs würde das Wasser zu starker Erosion führen. Es würde in den Boden eindringen, sich auf der Kreide stauen und schließlich den Sand und das Sediment mit sich reißen und zu großen Hangrutschungen führen. Solche Rutschungen treten immer wieder einmal auf. Bis zu 100.000 Kubikmeter Kreide, Sand und Hunderte Bäume gleiten dann in Sekunden 100 Meter die Steilküste hinab in die Ostsee. Ohne den Wald aber, würde der Boden sehr viel öfter ins Rutschen kommen. Stodian: „Die Bäume stabilisieren ihren Lebensraum, indem sie das Wasser zurückhalten und aufnehmen.“ Schwindet der Wald, werde es gefährlich. So habe man vor rund 20 Jahren in einem Dorf westlich des Nationalparks den Wald an einem Abschnitt der Steilküste gerodet. Kurze Zeit später gab es eine große Hangrutschung, die bis ins Hafenbecken rauschte.

Küstenwald auf Rügen
Foto: Ingolf Stodian

Baume stärken das Land

Die Bäume im Nationalpark Jasmund stabilisieren ihren Lebensraum, indem sie das Wasser zurückhalten. Schwindet der Wald, wird es gefährlich. So habe man vor rund 20 Jahren in einem Dorf westlich des Nationalparks den Wald an einem Abschnitt der Steilküste gerodet. Kurz danach rutsche der Hang bis ins Hafenbecken.

Doch sind im Jasmund mit den Hangrutschungen über die Jahrhunderte auch ganz besondere Biotope entstanden – die Hangschluchtwälder, bis zu 50 Meter breite und 100 Meter lange Schluchten, die steil zum Meer abfallen. „Weil sie so steil sind, ist hier niemals Holz geschlagen worden“, sagt Ingolf Stodian. „Sie konnten sich vom Menschen unbeeinflusst entwickeln.“ So siedelten sich in diesem kühlen, feuchten Gebiet Pflanzen an, die ungestörte Bereiche bevorzugen. Vor allem Orchideen wie das Purpur-Knabenkraut und die zarte, dürre Korallenwurz wurden hier schon gesichtet, außerdem die gelblich-violett leuchtende Ragwurz; am Hang und am Strand, wo das herabgestürzte Geröll in riesigen Schutthaufen ruht, wächst sogar der Frauenschuh. Natürlich nur so lange, bis das Meer den Schutt abträgt oder neue Rutschungen die Pflanzen unter sich begraben.“ Immerhin nagen die Wellen der Ostsee bei Sturm unaufhörlich an den Kreidefelsen. Millimeter für Millimeter fressen sie sich in die Kreide hinein, bis diese abbricht. „Durchschnittlich verlieren wir jedes Jahr etwa 30 Zentimeter Küste, das geht schon seit etwa 6000 Jahren so, seit dem letzten großen Meeresspiegelanstieg nach der Eiszeit.“ Charakteristisch für den Wald im Jasmund seien zudem die Flechten. Diese gedeihen in der sauberen Ostseeluft besonders gut – etwa die Lungenflechte, die in Deutschland an kaum einem anderen Ort zu finden und normalerweise in Skandinavien zuhause sei. „Leider fehlen uns die Personalmittel, um die Flora und Fauna in den Hangschluchtwäldern einmal genau zu untersuchen“, konstatiert Ingolf Stodian. „Insofern wissen wir noch gar nicht, welche besonderen Arten es hier sonst noch gibt.“

Lungenflechte auf Baum
Foto: Ingolf Stodian

Echte Lungenflechte (Lobaria pulmonaria)

Die Lungenflechte kommt in feuchten, niederschlagsreichen Lagen vom borealen Bereich bis in Berglagen am Mittelmeer vor. Dort wächst sie auf der Rinde von Bäumen, seltener auf Fels.

Da die Lungenflechte sehr empfindlich auf Luftschadstoffe reagiert, liegen die Vorkommen der früher im europäischen Tiefland noch weit verbreiteten Art inzwischen fast ausschließlich am Alpennordrand. Die Flechte kann als ein Indikator für intakte Ökosysteme angesehen werden.

Enge Nachbarn und doch ganz verschieden

Obwohl Rügen und Usedom nur etwa 15 Kilometer Luftlinie auseinanderliegen, unterscheiden sich die Küstenwälder stark. Die Insel Usedom ist entstanden, weil die mächtigen Gletscherzungen der Eiszeit hier Geröll zu fünf großen Erhebungen, sogenannten Endmoränen, zusammengeschoben haben. Zwischen diesen Hügeln breitete sich später die Ostsee aus. Über Jahrtausende spülte die Ostsee Sand heran. Dünen bildeten sich, Pflanzenreste sammelten sich an. Und so entstand zwischen den Hügeln neues Land. Die Insel Usedom bildete sich. Tausende Tonnen von Sand haben sich im Lauf der Zeit auch auf den Endmoränen abgesetzt und so findet man entlang der Seeseite im Norden der Insel heute vor allem Kiefernwälder, die mit dem nährstoffarmen Sandboden zurechtkommen. Kiefern machen auf Usedom knapp 50 Prozent aller Bäume aus. Große Teile dieser Wälder gehören zum europäischen Schutzgebietsnetzwerk Natura2000. In den flachen, feuchten Niederungen wiederum wachsen vor allem Erlen und Eichen, während die Endmoränen mit Buchen bewachsen sind. Auch Reste von Mooren gibt es. Die Wälder sind ein bedeutendes Brutgebiet des Seeadlers. Zu Spitzenzeiten gab es hier in den vergangenen Jahren 24 Brutpaare, die ihre Horste hoch oben in den Bäumen bauen. Während der Brut muss zu den Horstbäumen ein Mindestabstand von 300 Metern eingehalten werden. „Was den Schutz der Wälder angeht, ist der Tourismus unsere größte Herausforderung“, sagt Felix Adolphi, Leiter des Forstamtes Neu Pudagla auf Usedom. „Usedom hat inzwischen jährlich fünf Millionen Übernachtungen, Tendenz steigend – bei rund 30.000 Einwohnern. Damit ist es wirklich schwer, die Besucher zu leiten und aus dem Wald herauszuhalten.“

Usedom
Foto: Felix Adolphi

Die surfenden Bäume

Usedom ist für Bäume ein anspruchsvolles Gebiet, weil es auf engem Raum so viele unterschiedliche Standorte gebe. An der lange Kliffranddüne wachsen nicht nur Kiefern, sondern auch Buchen. Eine Eigenheit dieses Waldes sind die „surfenden Buchen“. So kommt es immer wieder vor, dass Buchen mitsamt ihren Ballen aus der Kliffranddüne abbrechen und den Hang hinabgleiten. Sofern sie aufrecht auf dem Ballen stehen bleiben, können sie am Strand Wurzeln schlagen – und dort noch einige Jahre leben, bis die Wellen der Ostsee sie bei Sturmflut davontragen. 

Standortfremde Fichten und Leberblümchen

In den 1950er-Jahren wurden in einigen Gebieten der Insel Usedom ortsfremde Sitkafichten als schnell wachsende Baumart angepflanzt. Große Teile dieser Bestände wurden drainiert und trockengelegt. Seit längerer Zeit werden diese Gräben nicht mehr gepflegt, um das Wasser im Wald zu halten. Noch ist offen, wie die Sitkafichten-Bestände in Zukunft umgebaut werden. Der Boden sei voller Fichtensaatgut, sagt Felix Adolphi, was es schwierig mache, neue Baumarten anzupflanzen. Überhaupt sei Usedom in Sachen Wald ein anspruchsvolles Gebiet, weil es vom Moor bis zur Düne auf engem Raum so viele unterschiedliche Standorte gebe. Einer der interessantesten sind für ihn die viele Kilometer lange Kliffranddüne an der Seeseite der Insel und ihr mit 58 Metern höchster Punkt, der Streckelsberg. Hier wachsen nicht nur Kiefern, sondern auch Buchen. Und natürlich gibt es hier auch Pflanzen, die auf nährstoffarme Böden spezialisiert sind – etwa das Leberblümchen, das nach Bundesartenschutzverordnung als „besonders geschützt“ eingestuft ist. Eine Eigenheit dieses Waldes seien vor allem auch die „surfenden Buchen“, sagt Felix Adolphi. So komme es immer wieder vor, das Buchen mitsamt ihren Ballen aus der Kliffranddüne abrechen und den Hang hinabgleiten. Sofern sie aufrecht auf dem Ballen stehen bleiben, können sie am Strand Wurzeln schlagen – und dort noch einige Jahre leben, bis die Wellen der Ostsee sie bei Sturmflut davontragen. 

www.wald-mv.de

www.nationalpark-jasmund.de


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