
Waldgräser – das Meer unter den Bäumen
Sanft wiegt sich das Weiche Honiggras unter Eichen, still liegen die zarten Halme der Drahtschmiele im Kiefernwald, Wald-Zwenken recken die Halme in der Hartholzaue. Eine große Vielfalt an Waldgräsern wächst an Waldrändern, auf Lichtungen und auch im Halbschatten unter mächtigen Buchen, Eichen und Kiefern. Waldbesuchern fallen die Gräser oft nur als grünes Beiwerk auf. Die flattrigen Halme und schmalen Blätter der einzelnen Arten sind kaum von denen anderer Gräser zu unterscheiden. Doch wer den Wald kennenlernen will, sollte sich bücken und in die Welt der Gräser eintauchen.
In naturnahen, artenreichen Wäldern bilden Gräser mit den unterschiedlichen Baumarten, Sträuchern und Kräutern ein Biotop. Sie bereichern den Wald von Grund auf. So ist die Weiße Hainsimse derart typisch für norddeutsche und baltische Buchenwälder, dass das Binsengewächs prägend für den Lebensraumtyp der Hainsimsen-Buchenwälder ist. Sie wachsen auf sauren Böden, einige Stil- und Traubeneichen mögen es unter den Buchen schaffen, doch Sträucher und Kräuter fehlen in den Kathedralen-artig anmutenden Hainsimsen-Buchenwäldern.
Jedes Gras hat seinen Platz
Waldgräser sind sogenannte Zeigerarten für die Qualität des Bodens. Die Wald-Zwenke verrät besten Waldboden. Wo die Wald-Zwenke wächst, verarbeitet eine Vielzahl von Kleinstlebewesen im Boden das Laub und die Streu und schaffen die beste Grundlage für Bäume. Einen sauren, mageren Boden hingegen zeigt das Weiche Honiggras an. Es wächst auf nährstoffarmen Sandböden, also dort, wo Bäume eh um Mineralien für ihr Wachstum kämpfen.
Da jedes Gras bestimmte Anforderungen an Nässe, Trockenheit, Säuregehalt und andere Eigenschaften des Bodens stellt, helfen die unterschiedlichen Grasarten den Förster:Innen und Waldbesitzer:Innen einen Wald einzuschätzen. Gräser zeigen, welche Bäume zu ihnen und dem Boden passen. Und sie verbessern den Boden in artenarmen Kiefern- und Fichtenforsten. Die vergehenden Grashalme geben Nährstoffe in den Boden, füttern mit alten Halmen und Blättern die Asseln, Würmer, Springschwänze und anderen kleinen Zersetzer. Auf kahlen Stellen im Wald siedeln oft zuerst Süßgräser und binden dann die Mineral- und Nährstoffe, die ohne Pflanzen mit dem nächsten Regen davon spülen.

Waldgräser – der Bestimmungsführer
Wuchert hier auf der kahlen Stelle Wald-Knäuelgras oder ist doch nur die harmlose Hunds-Quecke? Beim Bestimmen der Waldgräser hilft der Bestimmungsführer „Waldgräser“ aus dem Schweizer Haupt-Verlag (Rapp u. Bartsch, 2016). Einzigartig unter den Natur- und Artenbestimmungsbüchern gibt das Buch auf 268 Seiten Auskunft über den Lebensraum der Grasarten, das ökologische Verhalten und die Zeigerwerte für Böden und Waldbindung. Der „Bestimmungsführer Waldgräser“ ist daher ein guter Ratgeber für alle, die Wälder wirklich verstehen wollen. Mithilfe der detaillierten Artenporträts mit vielen Fotos können Waldfreunde die Grasarten erkennen und somit das Ökosystem Wald ganzheitlich kennenlernen.
Die Überlebensstrategie der Gräser – alle Kraft in die Wurzel
Das sanft scheinende Wesen vieler Gräser steht in starkem Gegensatz zu ihrer Beharrlichkeit. Da Gräser als Haupt- und Lieblingsnahrung vieler Tierarten und der Menschen leicht erreichbar sind, mussten sie sich an den Hunger der Pflanzenfresser anpassen. Nur in der Evolution gut angepasste Gräser wurden nicht abgegrast. Hartnäckig durchsetzen daher die Wurzeln und Wurzelstöcke (Rhizome) vieler Grasarten den Boden. Hat sich das Weiche Honiggras erstmal zu einem dichten Rasen in einem lichten Wald verwachsen, kommen die Baumschösslinge nicht mehr durch. Das Gras verhindert die natürliche Verjüngung des Waldes.
Die Strategien der Gräser sind vielfältig. Einige Grasarten vermehren sich aus kleinsten Stücken ihrer Wurzelstöcke, wenn der Boden umgraben wird und Wildschweine den Waldboden aufwühlen. Manche Grasarten verbreiten sich umso mehr, je stärker Hirsche, Rinder oder Bären sie grasen oder Menschen sie mähen. Andere Grasarten wie die Vielblütige Hainsimse bezirzen Ameisen mit zuckrigen Leckereien an den Samen, damit die Tierchen sie mitnehmen und im Wald verbreiten. Und dann gibt es die Grasarten wie das Land-Reitgras die dichte Urwälder auf Kniehöhe bilden und undurchdringlich verfilzen für Spatenhiebe und Baumsamen jeder Art.
„Gras – Maus – Aus“ wissen Förster und Waldkundige. Haben erstmal die Reitgras-Arten einen Kahlschlag, eine Lichtung, eine Windwurffläche besiedelt, richten sich Wühlmäuse unter den bald kreuz und quer liegenden Halmblättern ein. Sie bilden das dichte Grasdach, unter dem sich Wühlmause gut geschützte Gänge anlegen. Sie verputzen jeden Baumsamen, der auf die Grasmatten fällt oder weht.

Das Land-Reitgras (Calamagrostis epigejos (L.) Roth), auch als Sand-Reitgras, Landschilf oder Waldschilf genannt, gehört zur Gattung der Reitgräser (Calamagrostis) in der Familie der Süßgräser (Poaceae). Es kommt vor allem in lichten Laub- und Nadelwäldern, an Weg- und Feldrändern, auf Küsten- und Binnendünen sowie an feuchten Flussufern häufig vor. Als Wurzelkriechpionier kann es in Kahlschlägen die natürliche Waldverjüngung hemmen.
Und sollte keine Maus den Samen fressen und er begänne zu keimen, würden die Wurzeln des Sämlings keinen Boden und kein Wasser finden. Reitgras bildet einen bis zu zehn Zentimeter dichten Wurzelfilz an der Bodenoberfläche. Das Wurzelsystem reicht bis zwei Meter tief in den Boden hinein und Reitgräser können damit mit jedem Baum erfolgreich konkurrieren.
Von Seggen, Binsen und Süßgras
Gras ist nicht gleich Gras, was keine Binsenweisheit ist, sondern auf die Vielfalt der Süßgräser, Seggen und Binsen verweist. In Mitteleuropa zählen Botaniker rund 270 Süßgrasarten und 50 unterschiedliche Binsenarten, schreiben Christine Rapp und Norbert Bartsch im „Bestimmungsführer Waldgräser“. Die beiden Wissenschaftler von der Universität Göttingen erklären die Vielfalt der Gräser und ermöglichen es in den Artporträts auch Laien, die unterschiedlichen Grasarten voneinander zu unterscheiden. Ob sie Rispen oder Ähren, behaarte oder beborstete Blätter haben, im Horst oder als Rasen wachsen, erfahren die Leser und können zur Hauptwuchszeit im Sommer stundenlang mit dem Bestimmungsführer im Wald verbringen.
Waldläufer erkennen Binsen an ihren gleichmäßig runden Stängeln, die ähnlich wie Trinkhalme aus einem Binsenhorst staksen. Weit verbreitet ist zum Beispiel die Blaugrüne Binse und die mit ihr eng verwandte Knäuel-Binse. Beide Binsen wachsen gern an den nassen Rändern von verdichteten Fahrspuren und Kahlschlägen. Sie entwässern im Laufe der Jahre den geschundenen Boden und verschwinden dann wieder, wenn Sträucher und Bäume nachwachsen. Blaugrüne Binse und Knäuel-Binse sind immergrün und die Binsenhorste bieten im Winter den Rothirschen noch dann Nahrung, wenn die Süßgräser vergilbt sind.
Seggen werden auch Sauergras- und Riedgrasgewächse genannt. Wissbegierige erkennen sie am dreikantigen und unverzweigten Stängel. Der Name Riedgras verrät, dass die zu der Familie gehörenden Seggen, Simsen, Wollgräser und Haarbinsen im Nassen wachsen. Sie lassen sich an sumpfigen Senken, feuchten Kuhlen und überschwemmten Stellen im Wald nieder. Sie kommen, um zu bleiben und bilden wie die Binsengewächse und sehr viele Süßgräser einen ausdauernden Wurzelstamm.
Vorfahren von Weizen und Reis
Zur Familie der Süßgräser zählen weltweit 11.337 Arten in Wäldern und Prärie-Landschaften, an den Ufern von Flüssen und Seen. Ohne Süßgräser hätte sich die Menschheit vielleicht niemals niedergelassen. Denn erst die aus Süßgräsern gezüchtete Hirse, der Mais, Weizen, Reis und Roggen ermöglichten es weltweit den Menschen zu siedeln und sich und ihre Haustiere mit Getreide zu ernähren. Süßgräser bilden eine der größten Pflanzenfamilien. Auf den ersten Blick unterscheiden sich Süßgräser von den anderen Grasfamilien am Halm. Der Grashalm hat bei fast allen Arten deutlich erkennbare Knoten am Grund der Blattscheiden, die lang und meistens offenstehen. Die sich daraus entrollenden Blätter stehen aufeinander folgend entlang des Halms in einem 180 Grad Winkel zueinander. Wer je versucht hat, einen Büschel Gras auszureißen, ist an den tiefen und weitverzweigten Wurzeln gescheitert.
Gräser und Bäume haben zudem etwas gemeinsam, das besonders im Wald deutlich wird: Auch einige Waldgräser haben an ihren Wurzeln Mykorrhiza-Pilze, genauso wie ihre großen Verwandten. Das Pilzgeflecht versorgt die Gräser mit Nährstoffen und sie bekommen dafür Zucker. Borstgras, Wald-Zwenke, Rasen-Schmiele oder auch das Blaue Pfeifengras haben solche symbiotische Beziehung zu Mykorrhiza aufgebaut. Auch wenn die Gräser unscheinbar sind, haben sie eine wichtige Rolle im Ökosystem Wald. Ein Blick hinab in Gräsermeer lohnt also.