Eine Gartengrasmücke sitzt auf einem Ast

Foto: Knut Sturm

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Mut zur Lücke!

Offene Flächen im Wald erhöhen die Artenvielfalt: Lichtungen, die durch Brände oder Windwurf entstehen, werden heute meist geräumt und schnellstmöglich wieder aufgeforstet. Dabei sind Windwurfflächen bedeutenden Lebensräume in unseren Breiten und ein Hort der Artenvielfalt. Außerdem tragen sie zu einer natürlichen und schnellen Wiederverjüngung der Wälder bei.

Lothar, Kyrill und Wiebke – diese Namen dürften vielen Menschen im Gedächtnis geblieben sein. Denn alle drei waren schwere Orkane, die im Laufe der vergangenen Jahrzehnte in Mitteleuropa große Schäden angerichtet haben; vor allem auch in den Wäldern. Allein Wiebke brachte deutschlandweit in nur einer Nacht im Februar 1990 Bäume mit einem Volumen von 60 Millionen Festmetern (Kubikmetern) zu Fall – doppelt so viel wie damals in einem Jahr in Deutschland an Holz geschlagen wurde. Die Schäden waren immens, und schnell war die Rede von einer Katastrophe. Vergessen wird bei solchen Ereignissen oft, dass der sogenannte Windwurf, das Umwerfen von Bäumen durch Orkane, ein natürliches Phänomen ist, dass zum Lebenszyklus eines Waldes gehört: Alte und schwache Baumbestände stürzen um. Lichtungen entstehen, auf denen neues Leben gedeiht. Auch Waldbrände schaffen solche Freiflächen, in denen jene Pflanzen- und Tierarten eine Nische finden, die sich in Wäldern mit großen Bäumen und viel Schatten nicht durchsetzen können.

Zunächst erobern Kräuter und Blumen die Lücken im Wald, das leuchtend violette Schmalblättrige Weidenröschen, das Johanniskraut oder die strahlend gelbe Königskerze. Auf eher sauren Böden wächst der rosafarbene Fingerhut in die Höhe. Später folgen Sträucher wie die Brombeere oder der Holunder, ehe Birken oder Pappeln die Lichtung erobern. Im Schatten dieser Pionierbäume keimen die Samen der ursprünglichen großen Laubbäume, der Buchen oder Eichen, sodass im Laufe der Jahre einer neuer Wald heranwächst.

Ein Platz für Tiere

Mit den vielen verschiedenen Pflanzenarten zieht in den ersten Jahren nach einem Windwurf eine große Zahl an Tierspezies in die lichten Stellen ein – Insekten und Vögel zum Beispiel. Insgesamt sind Wälder, in denen alte, mittelalte und junge Baumbestände mosaikartig verteilt sind, deutlich artenreicher alsvollständig geschlossene Wälder.

Mit einer aufwendigen Studie im nordhessischen Nationalpark Kellerwald-Edersee fanden Ornithologen heraus, dass Bereiche, in denen umgestürzte Bäume als Totholz liegen blieben, für Vögel besonders wichtig sind. Dicht liegendes Totholz bietet machen Vogelarten beim Brüten und bei der Nahrungssuche Schutz vor Feinden. Gerade für Arten wie die Heckenbraunelle oder auch den Zilpzalp ist dichtes Totholz und dazwischen wachsendes Buschwerk wichtig.  Von Bedeutung sind auch Bereiche, in denen große Wurzelteller umgestürzter Bäume aufragen. Der Zaunkönig, der gefallene Bäume und Wurzelteller zum Nestbau nutzt, ist auf solchen Flächen sehr häufig zu finden. Auf Windwurfflächen im Kellerwald, auf denen man das Totholz beseitigt hat, zählten Biologen deutlich weniger Vogelarten.

Eine Vielzahl von kleinen Lebensräumen

Wie Untersuchungen aus Finnland und Russland zeigen, tragen Windwurfflächen besonders in Wäldern mit altem Baumbestand zu einer Erhöhung der Artenvielfalt bei. Selbst kleine Windwurfflächen sind von Bedeutung. Die rissige Borke von Pionierbäumen wie der Pappel oder Weide bietet Platz für seltene Flechten wie etwa die Lungenflechte. Lichtungen mit Totholz sind beispielsweise auch für das Haselhuhn ein wichtiger Lebensraum. Andere Organismen, wie etwa Insekten, profitieren von den kleinflächigen Temperatur- und Feuchteunterschieden im Totholz, in der Borke oder zwischen abgeschatteten und sonnigen Bereichen am Boden. Die Lichtverhältnisse, die Strahlung, die Temperatur, die Windbewegung so wie die Luft- und Bodenfeuchte können sich in Flächen mit dichtem Totholz bereits innerhalb weniger Dezimeter stark unterscheiden. Diese Vielzahl an Kleinstlebensräumen, sogenannten Mikrohabitaten, ist nicht zuletzt für die Verbreitung von Samen oder das Keimen verschiedener Pflanzen- und Baumarten von Bedeutung. Auch die verschiedenen Zersetzungsstadien im toten Holz bieten jeweils unterschiedlichen Arten einen Lebensraum. So überrascht es nicht, dass für die finnischen und russischen Naturwälder, in denen sich Windwurfflächen, mittelalte und urwaldartige Bereiche abwechseln, rund 4000 zum Teil hochspezialisierte Pflanzen- und Tierarten nachgewiesen wurden.

Lichte Bereiche, auf denen Totholz liegen bleibt, spielen aber auch für die zügige und natürliche Waldverjüngung eine große Rolle. Windwurfflächen mit Totholz regenerieren sich schnell. Ein inzwischen klassisches Beispiel dafür sind große Waldgebiete in Mittelschweden, die in den Jahren 1931 und 1932 von Orkanen verwüstet worden waren. Diese Schadensereignisse waren ein Glücksfall, weil Forscher der nur 16 Kilometer entfernten Universität Uppsala die natürliche Entwicklung auf den Windwurfflächen akribisch festhielten. Ihre Veröffentlichung aus dem Jahr 1936 zeigt, dass verrottende Baumstämme in den Lichtungen ein wichtiger Untergrund für Keimlinge und bevorzugter Kleinstandort für junge Waldbäume sind. Heute findet man auf den alten Windwurfflächen viele alte, stark vermoderte Baumreste, die kaum noch zu sehen sind. An ihrer Stelle stehen nun junge Fichten. Diese Waldverjüngung auf Moderholz ist eine der größten Leistungen der Windwurfflächen.

Dem Nachwuchs eine Chance geben

Untersuchungen aus dem Waldreservat Rorwald im Schweizer Kanton Obwalden bestätigen die damaligen Beobachtungen aus Schweden. Der Rorwald wurde im Dezember 1999 durch Orkan Lothar so schwer geschädigt, dass man sich dazu entschloss, große Teile des Waldes in einen Naturwald umzuwidmen. Entsprechende Pläne hatte es schon in den Jahren zuvor gegeben, weil sich das Holz wegen der steilen Hänge und fehlender Zuwege nur schlecht aus dem Wald abtransportieren ließ. Nach Lothar hat auf den Windwurfflächen eine rasante Waldverjüngung eingesetzt. Bis zu 50 Prozent der jungen Bäume wachsen auf Totholz.

Windwurfflächen machen Wälder und insbesondere auch Naturwälder artenreicher. Vor allem aber sind sie auch Heimat für viele seltene oder gar bedrohte Organismen – zum Beispiel für die Elsbeere, die 2011 in Deutschland zum „Baum des Jahres“ gekürt wurde. Die Elsbeere ist hierzulande eine der seltensten Baumarten und heute so unbekannt, dass viele noch nie von ihr gehört haben. Und das, obwohl ihre Beeren vor gut 100 Jahren häufig als Mittel gegen Magen- und Darmbeschwerden genutzt wurden. Heranwachsende Elsbeeren brauchen viel Licht und Wärme und gedeihen damit besonders gut auf Lichtungen. Für die Elsbeere und andere seltene Spezies sollte es deshalb öfter heißen: „Mut zur Lücke!“


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