Auf Spurensuche in Baumkronen
Bisher ist der Lebensraum Baumkrone in vielen Wäldern nur lückenhaft erforscht. Vielversprechende Pilotstudien deutscher Forschungsteams zeigen jetzt, wie die Artenvielfalt in den Baumkronen künftig schnell und einfach mithilfe des genetischen Fingerabdrucks von Tierarten bestimmt werden.
Welche Arten leben eigentlich im Wald? Sofern nur Bäume, Vögel oder Säugetiere gezählt werden, ist die Frage relativ leicht zu beantworten. Geht es aber um die vielen Insekten oder Lebewesen im Boden oder in der Borke, wird es schwieriger die Artenvielfalt genauer zu bestimmen. Besonders aufwendig ist es, das Leben in den Baumkronen zu erfassen. Um an die Insekten oder Spinnen in schwindelerregender Höhe zu gelangen, klettern Biologen in der Regel mit einer Spezialausrüstung nach oben – eine zeitraubende Arbeit, für die die Fachleute außerdem ein spezielles Höhentraining absolvieren müssen. Andere Forscherinnen und Forscher besprühen einzelne Baumkronen mit Chemikalien, um die Tiere zu betäuben. Die Insekten und Spinnen fallen dann zu Boden, können mit Tüchern aufgefangen und anschließend bestimmt werden. Allerdings ist der Einsatz der chemischen Keule ein starker Eingriff in den Lebensraum.
Zeitersparnis durch DNA-Analyse
An alternativen und vor allem zeitsparenden Erfassungsmethoden fehlte es bislang, weshalb der Lebensraum Baumkrone in vielen Waldgebieten bis heute nur lückenhaft erforscht ist. Mehrere Forschungsteams in Deutschland arbeiten deshalb an einer neuen Methode, um die Baumkronenbewohner zu erfassen. Sie suchen nach Spuren von Erbgut, das die Tiere hinterlassen. Solche genetischen Spuren sind im Kot, in den gehäuteten Panzern von Insekten, Resten von Spinnennetzen oder Eiern enthalten, die die Tiere an die Blätter kleben. Im Grunde ist es wie bei der forensischen Spurenkunde, bei der Fahnder einen Täter anhand seines Erbguts überführen, seines genetischen Fingerabdrucks. Statt mühsam Insekt für Insekt per Hand zu stimmen, weist man die Tiere mithilfe ihrer Erbgut-Fragmente nach. Experten sprechen von Umwelt-DNA oder „environmental DNA“ (eDNA).
Wie viele Lebewesen werden wohl an dieser alten Linde leben? Alte, große Laubbäume können bis zu 270 verschiedenen Insektenarten beherbergen. Auf ihnen leben bis zu 140 Spinnenarten und bis zu 300 weitere Wirbeltiere, wie Nager und Vögel, profitieren von Höhlen im Baum. Einige bleiben für wenige Stunden, andere Tiere verlassen die Linde für viele Monate nicht. Schätzungen gehen zudem von einer Million Gliederfüßler, wie Asseln, aus, die im oder am Baum leben. Schnell wird deutlich, dass klassische Zählmethoden hier an ihre Grenzen stoßen. Hier lesen Sie mehr.
Biologen von der Universität Duisburg-Essen haben im vergangenen Jahr erstmals untersucht, ob sich eDNA aus Baumkronen nachweisen lässt, wenn sie mit dem Regen von den Blättern abgewaschen wird. „Wir wollten ganz unvoreingenommen prüfen, ob sich die Spuren der Tiere, die oben leben, im Regenwasser wiederfinden“, sagt Robin Schütz, Biologie und einer der Erstautoren der Studie. In einem Waldgebiet in der Nähe von Wesel am Niederrhein stellten die Forscher unter den Baumkronen mit einer Kunststoff-Bahn bespannte Halterungen auf, in denen sich das Regenwasser sammelte. Das Wasser analysierten sie anschließend mit genetischen Methoden. Ergänzend bestimmten sie Tiere, die aus den Baumkronen in die Regensammler gefallen waren. „Die Ergebnisse haben uns selbst überrascht“, sagt Robin Schütz. „Anhand der eDNA konnten wir 43 wirbellose Tierarten nachweisen.“ Von keiner dieser Tierarten war ein Individuum direkt im Wasser gelandet. Das heißt, dass die eDNA ausschließlich mit dem Regen in die Sammler gelangt war.
Spuren typischer Baumbewohner
Natürlich ist es denkbar, dass eDNA auch aus der Umgebung mit der Luftströmung in die Wasserproben gelangt. Um diesen Effekt abzuschätzen hatte das Team insgesamt vier Sammler aufgestellt und jeweils unter einer anderen Baumart platziert, einer Buche, einer Eiche, einer Kiefer und einer Lärche. Schütz: „Tatsächlich konnten wir in den Regenwasserproben viele Arten nachweisen, die für die jeweilige Baumart typisch sind.“ Das bedeutet also, dass das Regenwasser ein repräsentatives Bild jener Organismen liefert, die in der Baumkrone leben. Natürlich könnten immer wieder einmal Tiere dabei sein, die nur zwischengelandet sind und Kot hinterlassen haben, räumt Robin Schütz ein. Zum großen Teil aber würden mit der eDNA typische Baumkronenbewohner nachgewiesen. „Wir konnten zeigen, dass die eDNA-Analyse von Regenwasser als Methode funktioniert“, sagt Robin Schütz. „Wir gehen davon aus, dass sie die Erfassung von Insekten und Spinnen im Wald künftig sehr gut ergänzen kann.“
Nach Entnahme des Zweiges aus einer Buche werden die Blätter für die Gewinnung der Umwelt-DNA vorbereitet. Dafür werden die Teile des Zweiges, überwiegend die Blätter, gleich am Fundort zerkleinert. Damit keine DNA auf den Blättern landet, die nicht schon auf dem Baum war, benutzen die Wissenschaftler Handschuhe. Am Ende der Analyse steht dann fest, welche Baumbewohner hier ihre Spuren hinterlassen haben.
Dass eine solche Analyse heute möglich ist, liegt auch daran, dass die genetischen Verfahren immer preiswerter geworden sind. Heute können sich auch Universitäten und kleine Labore die Anlagen leisten. Zudem gab es technische Fortschritte. Noch vor etwa 20 Jahren analysierte man nur das Erbgut einzelner Arten oder Individuen. Heute kann man parallel die Erbinformation vieler verschiedener Tierarten verarbeiten. Man spricht vom DNA-Metabarcoding.
30 Jahre altes Erbgut
Seit einiger Zeit setzt auch der Zoologe Henrik Krehenwinkel auf die eDNA-Analyse. Er ist Professor für Biogeographie an der Universität Trier. Dort befindet sich seit 30 Jahren die „Umweltprobenbank des Bundes“, in der Blätter aus deutschen Wäldern im Auftrag des Umweltbundesamtes in eiskaltem, flüssigen Stickstoff konserviert werden. Die Datenbank hat den Zweck, langfristig Informationen über die Schadstoffbelastung der Wälder zu sammeln. Da sich Luftschadstoffe auf Blättern ablagern, sind diese besonders geeignet, um daraus auf die Luftverschmutzung zu schließen. In insgesamt 20 deutschen Wäldern werden jedes Jahr Blätter gesammelt und in Trier eingelagert.
Als Henrik Krehenwinkel vor drei Jahren nach Trier kam, überlegte er, wie sich diese Daten noch anderweitig nutzen ließen. Er kam auf die Idee, die eingelagerten Blätter nach eDNA zu untersuchen. Auch er war überrascht, wie gut die Methode funktioniert – insbesondere auch bei Blättern, die schon viele Jahre alt sind. Im flüssigen Stickstoff bliebe die DNA sehr lange erhalten, sagt der Forscher. Der Vorteil an der Blattsammlung bestehe darin, dass man auch jene Insekten nachweisen könne, die in den Blättern leben. „Solche Arten kann man durch einfaches Abwaschen der Blätter oder mithilfe von Regenschauern nicht nachweisen“, sagt Henrik Krehenwinkel. Seine Blattanalyse liefert damit möglicherweise ein umfangreicheres Bild von der Baumkronen-Fauna. Dafür ist die Methode von der Universität Duisburg Essen einfacher umsetzbar, weil man dafür nicht in die Bäume steigen muss.
Diese kleine Kugelspinne (vermutlich Paidiscura pallens) lebt hauptsächlich an der Unterseite von Blättern, vor allem von Eichen. Die Weibchen bauen dort auch einen weißen Kokon. Er ist oft deutlich größer als die Spinne selbst. Auffallend häufig legt der Zweipunkt-Marienkäfer, Adalia bipunctata, seine Eier in der Nähe ab. Vermutlich profitiert der Käfer vom aggressiven Verteidigungsverhalten der Mutter-Spinne, die potenzielle Ei-Räuber abschreckt.
Für seine Studie hat Henrik Krehenwinkel auch frische Blätter gesammelt, die er von kleinen Bäumen und Sträuchern abgepflückt hat – von Hainbuchen, Schlehen, Stieleichen oder Weißdorn. Er musste dafür also nicht in hohe Bäume klettern. Doch selbst für hohe Bäume wäre seine eDNA-Methode von Vorteil, weil man nur einige wenige Blätter benötigt, um einen Eindruck von der Bewohnerschaft eines Baumes zu bekommen. Heutzutage müssen sich Baumkletterer stundenlang in Kronen aufhalten, um die Artenvielfalt umfassend zu analysieren.
Spinnen im Pfefferminz-Tee
Praktischerweise hält sich DNA auch dann sehr lange, wenn man sie in trockener Umgebung lagert. Eine Stickstoffkühlung wie in der Umweltdatenbank ist also gar nicht unbedingt nötig. „Man kann die Blätter einfach trocknen und dann später analysieren“, sagt Henrik Krehenwinkel. Dass das funktioniert, konnte er sogar an Pfefferminz-Tee aus dem Supermarkt zeigen. Die eDNA-Analyse des Tees ergab zum Beispiel, dass Spinnen über die Teeblätter gekrabbelt waren. „Wir haben festgestellt, dass die Spinnen aus Nordamerika stammten. Inzwischen weiß ich, dass die USA ein wichtiges Anbaugebiet für Pfefferminze sind.“ Ein paar getrocknete Blätter für eine umfassende Analyse der Bewohnerschaft von Büschen, Sträuchern und Bäumen – einfacher geht es nicht. Insofern geht auch Henrik Krehenwinkel davon aus, dass sich die eDNA-Analyse zu einem wichtigen Werkzeug für die Waldforschung entwickeln wird.
Quellen
Macher, Till-Hendrik; Schütz, Robin et al., 2022: It’s raining species: Rainwash eDNA metabarcoding as a minimally invasive method to assess tree canopy invertebrate diversity, BioRxiv, 24.03.2022
Weiterführender Artikel: Artenreiches Penthouse im Wald