Wisent im Rothaargebirge

Foto: Wisent Welt Wittgenstein

Home > Bildung > Waldwissen > WaldVerstehen > Der Wisent baut seinen Wald um

Der Wisent baut seinen Wald um

„Die biologische Vielfalt steigt, wenn Wisente in einem Gebiet leben“, sagt Verhaltensökologin Kaja Heising. Sie hat frei lebende Wisente im Rothaargebirge wissenschaftlich begleitet. Aus ihren Beobachtungen folgert sie: „Wisente bauen den Wald langfristig um und schaffen abwechslungsreiche Landschaften und artenreiche Mikrohabitate. Wir sollten der Art wieder die Chance geben, ihre Rolle zu übernehmen. “

Rund 25 Wisente ziehen durch das Rothaargebirge zwischen dem Wittgensteiner Land und dem Hochsauerland in Nordrhein-Westfalen. Sie sind die einzigen freilebenden Wisente in Westeuropa und damit die einzigen großen Raufutter- und Pflanzenfresser in Deutschland. Im Rothaargebirge überwiegen Fichtenforste und Buchenpflanzungen. Das Gebiet wird ausschließlich wirtschaftlich genutzt. Die Wisente finden ihren Weg zwischen eingezäunten Fichten- und  Weihnachtsbaum-Plantagen. Auf den mit Reitgras bewachsenen Kahlschlägen und Windwurfflächen finden sie ausreichend Futter. Wisente sind reine Pflanzenfresser. Sie gelten als „ökologische Schlüsselart“ wie Kaja Heising, wissenschaftliche Koordinatorin des Vereins Wisent Welt Wittgenstein e.V., sagt. Die Tiere haben sich aus einer Herde von sieben Wisenten entwickelt, die der Verein am 11. April 2013 in die Freiheit entlassen hat. Mit Heising sprechen wir über die Auswirkungen der Wisente auf den Wald und die biologische Vielfalt in ihrem Streifgebiet.

Wisent Bulle
Foto: Wisent Welt Wittgenstein

Der Wisent (Bos bonasus)

ist das schwerste und größte Landsäugetier und zudem der letzte Vertreter der wildlebenden Rinderarten Europas. Wisente kamen noch bis in das frühe Mittelalter in West-, Zentral- und Südosteuropa vor. Ihr Lebensraum sind gemäßigte Laub-, Nadel- und Mischwälder. Wisente sind Herdentiere, typische Herden umfassen 12 bis 20 Tiere. Bullen haben ein durchschnittliches Gewicht von 467 kg während Kühe fast 350 kg wiegen.

Frau Heising, die Wisente ziehen frei durch das Rothaargebirge. Was machen die Tiere jetzt im Frühjahr?

Kaja Heising: Zu dieser Jahreszeit im März halten sich die Wisente an den Winterfütterungsstellen auf. In den nächsten Tagen und Wochen, wenn die Vegetation sprießt, ist es den Wisenten egal, was sie von uns bekommen, und dann ziehen sie durch die Gegend.

Gibt es im mitteleuropäischen Winter nicht genügend Pflanzen, damit die Tiere satt werden?

Die Wisente würden ausreichend Futter finden, sie würden aber im Winter ihren Radius vergrößern oder verschieben. Wir füttern aus ökonomischen Gründen, um zu vermeiden, dass sie herumziehen.

Warum ökonomische Gründe? Füttern kostet auch Geld.

Im Rothaargebirge befinden wir uns eben nicht in einem Naturwald, sondern in einem wirtschaftlich genutzten Wald, und da möchte man aus ökonomischen Gründen möglichst vermeiden, dass der Radius sich verbreitert und damit potenzielle ökonomische Schäden entstehen. Die Winterfütterungsstelle haben wir eingerichtet, um die Wisente zu lenken und mögliche Schäden zu vermeiden.

Kaja Heising
Foto: Wisent Welt Wittgenstein

Kaja Heising

ist wissenschaftliche Koordinatorin der Wisent Welt Wittgenstein e.V. und begleitet wissenschaftlich die einzigen freilebenden Wisente in Deutschland. Schon während ihres Studiums hat die Wildtiermanagerin mit den Wisenten im Bialowieza Nationalpark und einem Naturschutzprojekt in den Niederlanden gearbeitet.

Auf welchem Radius bewegen die Wisente sich jetzt?

So plus-minus 300 Hektar. Im Sommer ziehen sie durch 5000 bis 6000 Hektar, was dem Gebiet auch anderer freilebender Herden in Europa entspricht.

Welche ökonomischen Schäden verursachen denn die Wisente im Wirtschaftswald?

Wisente sind Raufutterfresser und unter den Pflanzenfressern die Art, die das faserreichste Futter frisst. Wie Rothirsche fressen sie deswegen auch gern Rinde. Das ist in einem Naturwald was ganz Normales, im Wirtschaftswald kann das einen Einfluss auf den wirtschaftlichen Erlös aus dem Holzverkauf haben.

Schälen die Wisente die Bäume so stark, dass die Bäume absterben?

Dafür haben wir keinen Anhaltspunkt. Die Wisente zerstören nicht ihren Lebensraum, sie verändern ihn und bauen den Wald um. Der Wisent würde auf lange Sicht wie in den Naturgebieten Osteuropas eine mosaikreiche Landschaft mit vielen verschiedenen Habitaten schaffen.

Wie sehen die Mosaike aus?

Sehr vielfältig mit Wald, halboffenen Weidelandschaften und Strauchgebieten.  Der Wisent ist kein reines Waldtier, wie immer angenommen. Der Wisent lebt in halboffenen Landschaften, er braucht den Wald, aber auch Offenflächen. Auf jeden Fall würde der Wisent neue natürliche  Lebensräume schaffen.

Seit sieben Jahren ziehen die Wisente im Rothaargebirge herum. Wie haben sie bislang Natur und Landschaft beeinflusst?

Der Wisent ist eine Schlüsselart für einen natürlichen Wald, die seit seinem Verschwinden vor 250 Jahren in Mitteleuropa nicht ersetzt werden konnte durch andere große Pflanzenfresser wie den Rothirsch.  Wir sollten der Art wieder die Chance geben, ihre Schlüsselrolle im Ökosystem zu übernehmen. Die sieben Jahre, die die Tiere hier im Rothaargebirge in Freiheit sind, sind ja eine kurze Zeit und dennoch zeigt sich, welchen Einfluss Wisente auf ihre Umgebung haben können. Das haben wir sogar in dem 88 Hektar großen Gelände beobachtet, wo die Wisente drei Jahre lang vor ihrer Auswilderung gelebt haben. Drei Pflanzenarten sind währenddessen verschwunden und 16 neue Pflanzenarten dazugekommen. Die biologische Vielfalt steigt, wenn Wisente in einem Gebiet leben.

Wisent-Herde im Wald
Foto: Wisent Welt Wittgenstein

Beinahe ausgerottet

Wisente haben einst überall in Mitteleuropa gelebt, bis Bauern und Jäger sie auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands zwischen dem 14. und dem 17. Jahrhundert ausgerottet haben. 1927 töteten Jäger den letzten freilebenden Wisent im Kaukasus. Alle heutzutage lebenden rund 5.000 Wisente in Europa stammen von 12 damals bereits in Gehegen gehaltenen Wisenten ab. Der Genpool ist entsprechend klein, das Risiko von Inzucht groß.

Wie machen die Tiere das? 

Das liegt am Sozial- und am Fressverhalten der Wisente. Wisente sind Wiederkäuer.  Die Leitkuh bleibt mit ihrer Herde aus Mutterkühen und Kälbern nicht an einer Stelle, sondern zieht herum. Sie fressen ein paar Stunden, dann ruhen sie stundenlang, um wiederzukäuen, dann stehen sie auf, ziehen weiter, um dort wieder zu fressen. Das machen sie jeden Tag. Die Herde bleibt nicht an einer Stelle, bis dort kein Futter mehr zu finden ist, sondern sie fressen nachhaltig und tragen zur Saatverbreitung bei, hauptsächlich durch ihr dichtes Fell.

Wie beeinflussen die Wisente mit ihrem Sozialverhalten die Pflanzen und Tiere in ihrem Umfeld?

Die Bullen schaffen sogenannte Bullenkuhlen. Sie urinieren auf den Boden, wälzen sich darin, parfümieren sich damit quasi und machen sich attraktiver für die Kühe. Wisentkühe wälzen sich auch immer an denselben Stellen. In den Bullenkuhlen und den Wälzstellen schaffen die Wisente ein Mikrohabitat. Der Boden verdichtet sich, wenn eine halbe bis eine Tonne Wisent sich immer wieder auf derselben Stelle hinlegt. Auf dieser Fläche von ein paar Quadratmetern wächst dann nicht jede Pflanze, sondern nur noch Pionierpflanzen schaffen es. Und diese offeneren Kleinflächen sind attraktiv für Insekten, Mäuse oder in den Bachtälern auch für Frösche und Unken, die wiederum Greifvögel, Singvögel und auch Säugetiere anziehen.

Wenn die Wisente so viel Gras fressen, ist so ein Wisenthaufen doch bestimmt ganz schön groß. Haben Sie viele Mistkäfer im Rothaargebirge?

Wisentdung ist sehr weich und wirklich sehr groß. Für Mistkäfer ein gefundenes Fressen. Sie ernähren sich vom Dung, setzen ihre Larven dort rein und können eine Kinderstube schaffen. Die Käfer bilden auch eine gute Nahrungsgrundlage für andere Tiere, wie wir im Rothaargebirge festgestellt haben: Die Artenvielfalt der Wildkäfer hat sich erhöht.

Es gibt mehr Arten und mehr Käfer, seit die Wisente dort leben?

Ja, genau, die ehemalige Studentin Corinna Hollweck konnte 2019 für Ihre Masterarbeit 35 Mistkäferarten in Wisentgebieten nachweisen. Davon waren sechs Arten sogar als geschützt eingestuft wie der Spanische Mondhornkäfer oder der Rosskäfer. Die langfristige Anwesenheit von Wisenten kann also auch einen positiven Einfluss auf den Erhalt gefährdeter Mistkäferarten haben.

Wie ist das Zusammenleben der Wisente mit den Rothirschen oder den Mufflons, die im Rothaargebirge zu Jagdzwecken ausgewildert wurden?    

Der Wisent ist die dominantere Tierart, wie wir an den Winterfütterungen beobachten. Die Wisente fressen zuerst, aber es kommt nicht zu Kämpfen mit Rothirschen, Wildschweinen oder Rehen. Jäger beobachten auch, dass auf einer Lichtung die Rehe sich erstmal zurückziehen, wenn die Wisente auf die Lichtung treten. Langfristig haben wir keinen Anlass zu glauben, dass der Wisent eine andere Art verdrängt. Wildschweine und Wisente fressen auch gern mal nebeneinander auf der Wiese.

Das Rothaargebirge ist durch und durch vom Menschen geprägt. Gäbe es Regionen in Deutschland, in denen der Wisent bessere ökologische Voraussetzungen findet als im Fichtenforst?

Der Wisent ist extrem anpassungsfähig, deswegen gibt es in Westeuropa und auch in Deutschland sicher noch weitere geeignete Lebensräume. 2017 hat ein Wisentbulle ja gezeigt wie das geht. Damals ist der erste Wisent nach 255 Jahren selbständig über die Oder auf deutschen Boden gekommen. In den Niederlanden werden Wisente in einem Landschaftsschutzgebiet in den Dünen gehalten, um das offen zu halten. Sie werden nicht gefüttert, und es geht ihnen hervorragend, wie ich bei eigenen Besuchen dort sehen konnte. Hier im Rothaargebirge herrschen Fichten- und Buchenbestände vor. Dazwischen gibt es  Ahornbestände und freie Talräume mit Grünland wie Feuchtwiesen. Für die Ansprüche der Wisente ist dieser Wirtschaftswald vielfältig genug.

Die Wisente könnten sich wieder in Deutschland ausbreiten?

Aus biologischer Sicht kann der Wisent hierzulande leben, auch wenn wir Menschen uns die Landschaft zu Eigen gemacht haben. Die Tiere sind gesund, sie pflanzen sich fort, es ist nur die Frage, ob wir Menschen bereit sind, unsere Landschaft wieder zu teilen mit einer Tierart, die hier ursprünglich vorkam. Da sprechen wir ja nicht nur vom Wisent, sondern vom Wolf, Bär, Luchs, Otter, Biber. Es liegt an uns, den Mensch-Wildtier-Konflikt aufzulösen.

Vielen Dank für das Gespräch

Hintergrund

Vor der Auswilderung 2013 haben sich die Wisente drei Jahre lang in einem 88 Hektar großen eingezäunten Gelände an das selbstständige Leben gewöhnt. Das Naturschutzprojekt zur regionalen Tourismusentwicklung rund um Bad Berleburg im Wittgensteiner Land wurde vom früheren Bundesumweltminister Sigmar Gabriel und dem Land Nordrhein-Westfalen mit rund 1,6 Millionen Euro gefördert.

Das Bundesamt für Naturschutz stimmte dem einzigartigen Projekt zu.  Die staatlichen Naturschützer wollten mit den Wisenten „die derzeit unbesetzte ökologische Nische des Gras- und Raufutterfressers wieder besetzen“ wie sie in der Begründung für das Projekt schreiben. „Weiterhin soll … ein positiver Effekt für die Regionalökonomie durch Anregung des Ökotourismus erreicht werden.“

Zwischen den Wisentfreunden von Bad Berleburg und einigen Waldbauern und Forstbesitzern aus dem benachbarten Hochsauerland ist ein Streit über die frei ziehenden Wisente entbrannt. Die Wisente fressen auch mal von der Buchenrinde der Waldbauern und richten wirtschaftliche Schäden an, die aus einem dafür eingerichteten Fonds entschädigt werden. „Uns geht es nicht um einen Baum“, sagt Philipp Freiherr von Heereman, Vorsitzender des Waldbauernverbands Nordrhein-Westfalen. „Wir sorgen uns um die Zukunft des Waldes, wenn die Wisente sich selbst ihr Biotop schaffen.“ Wisente sind ähnlich wie Biber die Baumeister in ihrer Umgebung. „Die Wisente zerstören nicht ihren Lebensraum, sie verändern ihn und bauen den Wald um“, sagt Kaja Heising im Interview mit der Naturwald Akademie. „Der Wisent würde auf lange Sicht eine mosaikreiche Landschaft mit vielen verschiedenen Habitaten schaffen.“ Das wollen die Waldbauern und Forstbesitzer jedoch nicht.

Der Streit zwischen den Wisentfreunden und Gegnern ging bis zum Bundesgerichtshof. Nach einem BGH-Urteil vom 19. Juli 2019 sind die umherziehenden Wisente nicht frei und wild. Sie sind artenschutzrechtlich geschützte Wildtiere im Privatbesitz des Vereins Wisent Welt Wittgenstein. Für alle Kosten ist also der Verein zuständig – ebenso dafür die Situation zu verändern.

Umweltministerin von NRW Ursula Heinen-Esser (CDU) hat sich bemüht den Streit zu schlichten. Sie ist zudem politisch verantwortlich für die Wisente und hat einen Zaun im Landeswald im Rothaargebirge vorgeschlagen. Die Wisente wären dann inmitten landeseigener Fichten und Buchen gegattert. Zunächst waren 1500 Hektar Landeswald im Gespräch, dann 840 Hektar, seit einer Versammlung der Gegner und Befürworter mit Heinen-Esser am Aschermittwoch 2020 sind noch 505 Hektar im Visier der Politik. Noch streifen die Wisente über das Zehnfache der Fläche, knapp 5000 Hektar.

Maximal drei bis fünf Jahre könne die Herde von rund 30 Tieren eingezäunt werden, heißt es im Bundesamt für Naturschutz. Danach werden die Wisente dann freilebende Wildtiere oder sie müssen eingefangen werden und wieder in Gehegen oder Zoos untergebracht werden. Scheitern kann der Zaunbau am europäischen Naturschutzrecht der FFH-Richtlinie, das die Verschlechterung eines Habitats verbietet. Denn neben den Wisenten leben dort geschützte Tiere wie Luchse und Wildkatzen, die laut Gesetz nicht gestört werden dürfen. Wie es weitergeht und ob die ganze Herde der Wisente dann hinter das Gatter kommt oder nur einige wenige Tiere, klärt eine Arbeitsgruppe aus allen Beteiligten.


  • Earth for all

    Earth for all

    Kehrtwende ist das Wort, das der Menschheit und dem Planeten die Zukunft ermöglichen, die bald womöglich 10 Milliarden Menschen zählende Weltbevölkerung ernähren und einen Vorwärtssprung in der zivilisatorischen Entwicklung leisten soll.

    Mehr Informationen

  • Akustik im Wald ist mehr als Begleitmusik

    Akustik im Wald ist mehr als Begleitmusik

    Künftig sollen in Wäldern regelmäßig Tonaufnahmen gemacht werden, um daraus abzulesen, wie es um den Wald steht. Das Ziel ist ein „akustisches Waldmonitoring“. Es soll die klassische Bestandsaufnahme ergänzen – die Bundeswaldinventur – bei der Forstexperten alle paar Jahre vor Ort in bestimmten Gebieten den Zustand der Bäume erfassen – etwa die Dichte der Kronen…

    Mehr Informationen

  • Mastjahre – wenn der Baum wieder voll ist

    Mastjahre – wenn der Baum wieder voll ist

    Warmes Wetter und höhere Temperaturen im Klimawandel verstärken die Baummast von Buchen, Eichen und den anderen Waldbäumen. Manchmal jährlich produzieren die Bäume mittlerweile massenhaft Bucheckern, Eicheln, Kastanien, Nüsse während der Baummast – ein Phänomen, das vor der Erderwärmung seltener alle paar Jahre auftrat

    Mehr Informationen