Ein Baum liegt am Boden und verrottet

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Im toten Holz floriert das Leben

Jede vierte Tierart des Waldes braucht zum Überleben abgestorbene Bäume, die im Wald verrotten dürfen

Wissenschaftler sind sich einig: Alte und abgestorbene Bäume gehören in einen gesunden Wald, denn Biotopholz bietet die Lebensgrundlage für Tausende Pilz- und Tierarten, darunter viele Rote-Liste-Arten. Sie besiedeln das Holz in Wellen und kooperieren auf erstaunliche Weise

Auf die Frage, wo im Wald die meisten Tierarten leben, schauen die meisten von uns wohl instinktiv erst einmal hinauf in die Kronen. Dorthin, wo der Sperber ruft, die Tannenmeise nistet und die Eichhörnchen von Ast zu Ast springen. Richtig aber wäre der Blick nach unten, auf den Waldboden, wo sich vielleicht gerade der Windbruch des letzten Herbststurmes türmt oder die Überreste einer alten Eiche zerfallen. Totes Holz bildet die wichtigste Voraussetzung für Artenvielfalt in einem Wald. Rund ein Viertel aller waldbewohnenden Arten benötigt in mindestens einer Phase ihres Lebens Alt- oder Totholz.

Tragende Weibchen der Wildkatzen suchen sich am liebsten ein Versteck in hohlen Baumstämmen, um dort ihre Junge auf die Welt zu bringen. Insektenjäger wie der Weißrückenspecht finden nur im Totholz ausreichend Nahrung. Salamander und Eidechsen überwintern gern im feuchtwarmen Milieu des verrottenden Holzes. Wildbienen sind darauf angewiesen, dass Borkenkäfer und andere Ingenieure des Waldes Gänge und Höhlen in abgestorbene Baumstümpfe fressen. Sonst fänden die Bestäuber kaum einen geschützten Platz für ihre Brut.

Zuerst am Start: Bakterien, Pilze und Käfer

Am Beispiel einer toten Eiche und deren Zersetzungsprozess kann beobachtet werden, welche Arten zu welchem Zeitpunkt und Zweck die umgestürzte Eiche erobert. Dies, folgt einer festen Abfolge, die eng an die Zerfallsstadien des Baumes geknüpft ist. Mit jungen Bäumen in Reinform können die meisten Tierarten wenig anfangen. Sie lassen holzzersetzende Pilze, Hefen und Bakterien die Vorarbeit leisten und die am Anfang unverdaulichen Holzfasern biochemisch aufschließen.

Das ist keine leichte Aufgabe, denn Holz besteht in erster Linie aus den drei Komponenten Zellulose, Hemizellulose und Lignin. Diese Stoffe sind vor allem in den Zellwänden und -zwischenräumen eingelagert und bilden zusammen einen festen Faserverbund. Um ihn aufzubrechen, nutzen die Erstbesiedler verschiedene Enzyme als Spitzhacke. Und die Angreifer kommen in Scharen. An abgestorbenen Buchenstämmen in bayerischen Naturwaldreservaten zählten Forscher 269 verschiedene Pilzarten, davon 29 an einem einzigen Baum.

Einer der ersten Punkte, an denen Pilze zu Werke gehen, ist die Innenseite der Baumrinde. Kurz nach dem Tod des Baumes enthalten ihre Zellen und Leitungsstränge noch ausreichend nährstoffreiches Zellplasma und Pflanzensaft. Darauf haben es nicht nur die Pilze abgesehen, sondern auch viele holzbewohnende Käfer wie Borken-, Pracht und Langhornkäfer. Die Pionierarten profitieren dabei von der Anwesenheit der jeweils anderen. Ein Beispiel: Wo Bock- oder Borkenkäfer lange Gänge in den Stamm fressen, zerstören sie die schützende Rinde und öffnen so die Tür für Pilze und Bakterien, welche die Bohrlöcher sofort besiedeln. „Der Abbau eines Stammes nur durch Mikroben allein würde doppelt so lange dauern wie mit Hilfe der Holzinsekten“, schreiben die Schweizer Biotopholz-Experten Beat Wermelinger und Peter Duelli.

50 Meter – das ist manchen Käfern schon zu weit

Da Holz und Pilzmyzel eine ziemlich karge Nahrung darstellen, benötigen beispielsweise die Larven des Hirschkäfers fünf Jahre, um sich im Mulm alter Eichen vollständig zu entwickeln. In dieser Zeit beginnt die Eiche, langsam zu zerfallen. Die Rinde löst sich nach und nach, Zweige und Äste fallen ab. Die Pionierarten verlassen nun den Baum, um sich im Umkreis frisches Totholz zu suchen. Sehr weit kommen sie dabei allerdings nicht. Finden bestimmte holzzersetzende Pilze in einem Umkreis von 10 Metern nicht mindestens 10 Kubikmeter neues Biotopholz, sterben sie lokal aus.  Dasselbe gilt für einige holzbewohnende Käferarten. „Für gewisse Insektenarten sind 50 Meter Abstand zum nächsten Baum bereits eine unüberwindliche Entfernung“, schreibt Expertin Rita Bütler in einem Fachbeitrag für „Wald und Holz“.

So viele Arten leben in Mitteleuropa im Totholz

Mehr als 2.500 Pilze, Algen und Flechten, über 1.700 Käfer, viele Mücken-, Fliegen- und Wespenarten, mehr als 60 Vogelarten, 23 Fledermausarten und Vierbeiner wie Baummarder, Siebenschläfer und die seltene Wildkatze

Ein neues Netzwerk entsteht: Produzenten, Räuber, Parasiten

Die tote Eiche erlebt derweil die zweite Besiedlungswelle. Nagekäfer, Schröter, Schwarz- und Schnellkäfer graben sich durch den inzwischen morschen Stamm. Tausendfüßer und Asseln krabbeln durch die Fraßgänge – stets in Gefahr von Spechten und anderen Insektenjägern, die jetzt regelmäßig auf Futtersuche vorbei kommen. Parasiten wie die Riesenschlupfwespe tippeln über das abgestorbene Holz und versuchen mit ihren Fühlern die Vibrationen der Holzwespenlarven unter der Rinde zu erspüren. Lokalisieren sie eine Larve, stechen sie mit ihrem Legestachel durch die Rinde hindurch in das Opfer und legen ihre Eier in dessen Körper ab.

Produzenten, Räuber, Parasiten, Aasfresser – die Artengemeinschaft im Totholz bildet ein ganz eigenes Nahrungsnetz, dessen Vielfalt von verschiedenen Faktoren abhängt. Eine wichtige Rolle spielen die Menge und Qualität des Totholzes. Von ihnen hängt nämlich ab, wie viel Energie und Nährstoffe grundsätzlich zur Verfügung stehen. In jedem Wald gibt es Holz in Form toter Äste oder Baumstümpfe. Für die Artenvielfalt entscheidend sind jedoch sehr dicke Bäume, die über einen langen Zeitraum von bis zu 80 Jahren verfallen dürfen.

Wichtig ist zudem die Sonneneinstrahlung. Totholz, das auf einer Lichtung liegt, auf der auch Blütenpflanzen blühen, weist in der Regel eine höhere Zahl an Pilz- und Tierarten auf als ein abgestorbener Baum, der im Schatten verrottet. Dieses Phänomen lässt sich mit den Futtervorlieben vieler Käfer erklären: Sowie sie aus dem Larvenstadium herauswachsen sind, stehen Blütenpollen und Nektar auf ihrer Speisekarte. Beides ist in schattigen Wäldern schwer zu finden.

Wählerisch zeigt sich die Artengemeinschaft auch bei der Art des Biotopholzes: „Die Eiche gilt als die ‚artenreichste’ Baumart. Sie beherbergt ungefähr 650 holzbewohnende Käferarten, während es auf der Buche ‚nur’ 240 und auf der Fichte auf gerade noch 60 verschiedene Käfer sind“, berichtet der Schweizer Biotopholz-Experte Beat Wermelinger.

Wie viel zerfallendes Holz braucht der Wald?

Um diese Artenvielfalt zu erhalten, muss der Wald, je nach Baumartenzusammensetzung, über eine Mindestmenge von 30 – 60 Kubikmeter Biotopholz pro Hektar verfügen – und das in ganz unterschiedlichen Formen. Der Dreizehenspecht und andere Höhlenbrüter brauchen stehende tote Bäume – die sogenannten Biotop- oder Habitatbäume.  Vielen Pilzen und Insekten genügen liegende Stämme, Baumstümpfe oder Wurzelteller. Letztere haben Waldbesitzer in der Vergangenheit oft entfernen lassen – entweder, um das Holz zu nutzen oder auch der Ordnung halber, wie es oft heißt.

Ordnung aber schafft die Natur von ganz allein. Das Holz einer toten Buche bauen Mikroben, Käfer und Co. in 25 Jahren ab. Für Fichten und Tannen benötigen sie mehr als 80 Jahre. Die ehemals im Holz gebundenen Nährstoffe und Spurenelemente sind dann wieder mineralisiert und dem Boden zurückgegeben. Der Kreislauf des Lebens im Wald kann von vorne beginnen.

Literatur


Quellen und weiterführende Literatur:

  1. Lachat et al (2014). Totholz im Wald – Entstehung, Bedeutung und Förderung. Merkblatt für die Praxis. Eidgenössiche Forschungsanstalt WSL.
  2. Müller-Kroehling et al (2016). Biotopbäume und Totholz, Merkblatt der Bayerischen Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft 17.
  3. Stokland et al (2012). Biodiversity in Dead Wood. Cambridge University Press.

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