
Solling – das Werden eines Naturwaldes
Im Solling, in Niedersachsen, wird sich ein 1000-Hektar großes Gebiet in den nächsten Jahrzehnten in einen Naturwald verwandeln. Die Fauna und Flora in dem Mittelgebirge soll so intensiv erforscht werden, wie kaum jemals zuvor in Deutschland. Die Langzeit-Beobachtung wird unter anderem klären, ob Waldinsekten seltener werden und wie der Buchenwald auf den Klimawandel reagiert.
Kein Aufräumen mehr, kein Holzeinschlag und keine Pflege: 1000 Hektar Wald, eine Fläche von etwa fünf mal zwei Kilometern, nahe der niedersächsischen Stadt Northeim sollen sich künftig in einen Naturwald verwandeln. Das Gebiet liegt im Solling, einem Mittelgebirge, das im Osten der Weser gut 500 Meter aufragt. Das Projekt ist etwas Besonderes, weil darin sehr viel genauer als bisher untersucht werden wird, wie sich die Artenvielfalt in dem Gebiet im Laufe der Zeit verändert.

Naturwald ist jeder unbewirtschaftete Wald ohne den direkten Eingriff des Menschen. Hier kann die Natur sich ungestört entwickeln. Ein Naturwald kann alt oder jung sein, artenreich oder artenarm.In ihnen finden sich früher oder später sog. Biotopbäume, die als Lebensraum für eine Vielzahl von Tieren dienen. Sie haben Faulstellen, abfallende Rinde, sichtbaren Pilzbewuchs oder abgebrochene Kronen, die einer Vielzahl von anderen Lebewesen Raum und Nahrung bieten. Diese Bäume gelten i.d.R. als besonders schützenswert.
„In dem Projekt kommen verschiedene Aspekte zusammen, die unser Vorhaben sehr interessant machen“, sagt Peter Meyer*, Experte für Waldnaturschutz an der Nordwestdeutschen Forstlichen Versuchsanstalt in Hannoversch Münden. „In dem Gebiet herrscht der in Mitteleuropa ehemals weit verbreitete Hainsimsen-Buchenwald vor. Damit können wir erforschen, wie sich diese typische Waldgesellschaft an den Klimawandel anpassen kann.“ Das Ziel sei es, die Pflanzen- und Tierarten möglichst umfassend mit einem ganzen Bündel an Erfassungsmethoden zu kartieren und die Entwicklung der Baumbestände über lange Zeit zu beobachten. „Das ist eine Arbeit von Jahrzehnten, die wir jetzt vorbereiten. Bislang gibt es nur wenige vergleichbare Langzeitprojekte, in denen das Inventar an Pflanzen und Tieren so detailliert untersucht wurde.“ Besonders sei auch, dass die Entwicklung der Artenvielfalt in dem Naturwaldgebiet mit jener in Wirtschaftswäldern verglichen wird.
Schub durch neues Monitoring-Zentrum
Die langfristige Erfassung von Arten, das sogenannte Monitoring, hat erst kürzlich einen Schub bekommen: Im November 2021 hat das Bundesamt für Naturschutz das „Nationale Monitoringzentrum zur Biodiversität“ eröffnet. Das neue Zentrum in Leipzig wird in den kommenden Jahren Daten über die Artenvielfalt in ganz Deutschland zusammenführen, um damit einen umfassenden Überblick über den Zustand der Fauna und Flora zu bekommen. Zugleich ist das Zentrum ein Netzwerk für Monitoring-Experten wie Peter Meyer. Ein Ziel ist es auch, Erfassungsmethoden zu vereinheitlichen und neue Monitoring-Technologien auf den Weg zu bringen. „Und die wollen wir auch im Solling einsetzen“, betont er.
Ein Schwerpunkt der Arbeit wird auf den Insekten liegen. Immerhin gibt es in Mitteleuropa rund 30.000 Insektenarten, die im Wald zu finden sind. Manche sind stärker, manche schwächer an den Wald gebunden. In jedem Fall aber sind viele andere Lebewesen von den Insekten abhängig, sei es, weil die Insekten Pflanzen bestäuben oder Nahrung für Tiere sind. „Die bisher vorliegenden Untersuchungen zeigen, dass die Biomasse und Artenvielfalt der Insekten in den vergangenen Jahren in der offenen Landschaft und auch im Wald abgenommen haben“, sagt Peter Meyer. „Welche Einflüsse hier eine Rolle spielen, können wir aber noch nicht genau sagen.“ Die Arbeit im Solling und der Vergleich mit dem Wirtschaftswald soll jetzt belastbare Daten liefern, um die Zusammenhänge zwischen der Waldbewirtschaftung, der Waldstruktur und den Randbereichen der Wälder auf der einen Seite und der Häufigkeit der Tiergruppen und der Artenvielfalt auf der anderen Seite zu erhellen.

Das Naturschutzgebiet liegt im Mittelgebirge Solling. Es bildet einen Komplex aus großflächigen naturnahen Hainsimsen-Buchenwäldern auf Buntsandstein, die eine hohe Strukturvielfalt aufweisen. Auf Teilflächen sind Stiel- und Traubeneichenbestände zu finden. Bei diesem Gebiet handelt es sich um den größten zusammenhängenden Komplex von Hainsimsen-Buchenwäldern im niedersächsischen Weser- und Leinebergland.
Hunderte von Arten im Blick
Das Gebiet im Solling ist nach dem Harz die größte zusammenhängende Waldfläche mit natürlicher Entwicklung in Niedersachsen. Ein Teil davon – der Limker Strang – wird seit rund 50 Jahren nicht mehr bewirtschaftet und hat sich bereits zu einem naturnahen Wald entwickelt. Es gibt viel Totholz und Lücken im Kronendach, die durch umgestürzte Bäume entstanden sind. Damit ließen sich vor Ort auch die verschiedenen Stufen der Entwicklung eines Buchenwaldes vergleichen, sagt Peter Meyer. Zunächst aber steht die sogenannte Erstinstandsetzung in Teilen des neu eingerichteten Wildnisgebietes an. Die Fichten werden aus dem Wald entfernt, um ihn naturnäher und standorttypischer zu gestalten. Auch gilt es zu verhindern, dass Borkenkäfer aus dem Naturwald in die Wirtschaftswälder in der Umgebung gelangen. Zeitgleich wird das intensive Monitoring beginnen. Das hat es in sich, weil die Experten die Artenvielfalt und Häufigkeit sehr vieler Pflanzen- und Tierarten erfassen wollen. Zu den Insekten kommen Dutzende von Spinnenarten und andere Gliedertiere hinzu, ferner Vögel und Fledermäuse, Hunderte Arten von Moosen, Farnen und Flechten, Blumen und Gräser und zu guter Letzt Sträucher und Bäume. „Natürlich gibt es etablierte Erfassungsmethoden wie etwa Insektenfallen“, sagt Peter Meyer. „Methodisch muss das Monitoring aber noch verbessert werden.“ Seit vielen Jahren etwa orientiert man sich an sogenannten Leitarten, wichtigen Pflanzen- oder Tierarten, an denen man abliest, in welchem Zustand sich ein Naturgebiet befindet. Für die Insekten und andere Organismen aber sei es bislang nicht überzeugend gelungen, die Artenvielfalt anhand dieser Leitarten zu bewerten. Hier bestehe noch Forschungsbedarf.
Vielfältige Methoden für effiziente Erfassung
Ein so intensives Monitoring von Pflanzen und Tieren kostet Zeit und Geld. „Es ist daher unmöglich, zigtausend Arten zu erfassen“, sagt Peter Meyer. „Wir werden uns vor allem auf jene Arten beschränken, die für das Funktionieren des Waldes vermutlich besonders relevant sind.“ Die technische Entwicklung neuer Methoden soll dabei helfen. Vögel und Fledermäuse etwa werden schon seit längerer Zeit automatisch bestimmt. Dazu setzt man Stimmen- oder Horchkisten ein, die in regelmäßigen Zeitabständen Tonaufnahmen machen. Die Computer-Algorithmen sind inzwischen so leistungsfähig, dass sie Vogelstimmen und die Rufe der Fledermäuse recht zuverlässig erkennen. Damit kann die Auswertung zu einem großen Teil automatisiert werden.
Noch relativ jung ist die Bestimmung von Arten im Freiland mithilfe der Genetik. Ähnlich wie Kriminal-Forensiker auf der Suche nach Tätern können Biologen heute in der Umwelt genetische Spuren von Pflanzen und Tieren sammeln. Dazu kann man Luft-, Boden- oder Wasserproben nehmen, im Labor aufbereiten und dann nach charakteristischen Erbgutabschnitten der verschiedenen Pflanzen und Tiere durchsuchen. Experten sprechen dabei auch von Umwelt-DNA. „Die Analyse-Methoden sind inzwischen so preiswert, dass wir sie für unsere Zwecke nutzen können“, sagt Peter Meyer. Um aus dem bunten Gemisch von Genschnipseln die Pflanzen- und Tierart herauslesen zu können, muss man den genetischen Code mit Datenbanken abgleichen. Diese sind heute im Internet frei verfügbar. Für viele Waldbewohner, wie etwa Insektenarten oder Pilze, fehlen in den Datenbanken bislang jedoch genetische Informationen. Zusammen mit Kollegen der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung in Frankfurt am Main will das Team um Peter Meyer in den kommenden Jahren die genetische Artenbestimmung anwenden und damit auch dazu beitragen, die bestehenden Datenbanken zu verbessern.

Wird das Gebiet im Solling bald zur Wildnis? Ausgeschlossen ist dies nicht, denn Wildnisgebiete sind große, unveränderte oder nur leicht veränderte Naturgebiete, die von natürlichen Prozessen beherrscht werden und in denen es keine menschlichen Eingriffe, keine Infrastruktur und keine Dauersiedlungen gibt. Sie werden dergestalt geschützt und betreut, dass ihr natürlicher Zustand erhalten bleibt und sie Menschen die Möglichkeit zu besonderen geistig-seelischen Naturerfahrungen bieten.“ (European Wilderness Working Group,2011)
Im Jahr 2007 hatte die Bundesregierung mit der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt beschlossen, dass sich fünf Prozent der Waldfläche in Deutschland beziehungsweise zehn Prozent der öffentlichen Wälder natürlich entwickeln sollen. Im Landeswald Niedersachsens ist das gelungen, wenn auch noch nicht bei den Kommunalwäldern. Seit 2019 werden 32.947 Hektar Landeswaldfläche – beziehungsweise zehn Prozent – nicht mehr genutzt. 2546 Waldgebiete gibt es in Niedersachsen. Davon sind 2520 Gebiete kleiner als 100 Hektar. Größere zusammenhängende Gebiete sind rar. Die mit 14.900 Hektar größte naturnahe Fläche ist die Kernzone des Nationalparks Harz. Hier wuchsen bis zu den trockenen Sommern 2018 – 2020 allerdings zum großen Teil Fichten. Insofern ist der neue Naturwald im Solling mit seinem Hainsimsen-Buchenwald in Niedersachsen tatsächlich außergewöhnlich – und in der Weiterentwicklung des Ökosystem-Monitorings ein Beispiel, das bundesweit Schule machen könnte.
*Peter Meyer ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Naturwald Akademie
Literatur
Überblick zu Wälder mit natürlicher Entwicklung (NWE) in den Niedersächsischen Landesforsten (NLF)
Beiträge Niedersachsens zum Ziel „Natürliche Waldentwicklung“
Steckbrief zum Naturschutzgebiet „Wälder im östlichen Solling“
Nationales Monitoringzentrum zur Biodiversität
Weiterführende Informationen
Naturschutzfachliche Analyse der Wälder Deutschlands – der Alternative Waldzustandsbericht