
Spurenlesen in der Natur
Aufmerksame Waldläufer entdecken auf ihren Spaziergängen manchmal einen angefressenen Fichtenzapfen auf einem Baumstumpf. Sie sehen Hufabdrücke auf dem sandigen Waldweg und rätseln, ob hier ein Reh, ein Wildschwein oder ein Rothirsch lief. Und am Rande des Weges hat ein Tier in einer schnurgeraden Linie seine Pfoten exakt in zwei schräg zueinander stehenden, versetzten Abdrücken hinterlassen.
Wer seine Nachbarn im Wald kennenlernen will, achtet auf Details. Viele Zeichen sind eindeutig und verraten, welches Tier hier fraß oder lief, schlief oder eine Losungswurst hinterließ.
Wurde der Fichtenzapfen geknabbert? Oder hat ein Tier die Zapfenschuppen herausgerissen? Hat das Tier von der Spitze abwärts gefressen? Und liegen auf dem Baumstamm noch weitere Zapfen? Eichhörnchen tragen Fichtenzapfen gern auf Baumstümpfe, reißen mit starken Zähnen die Schuppen heraus und kommen so zu den fetthaltigen Samen. Mäuse sind nicht kräftig genug, um die Schuppen auszureißen. Sie nagen sie deshalb am Boden ab.
Spurenlesen ist die Kunst des Fragens
Schnelle, aus der Luft gegriffene Antworten helfen Spurenlesern nicht. Sie führen oft auf falsche Fährten. Denn wie groß ist eigentlich der Hufabdruck im Sand? Eher wie zwei menschliche Fingerabdrücke? Oder schon so groß wie die halbe Hand? Die Größe verrät als erstes, ob hier ein Reh oder ein Dam- oder Rothirsch liefen. Und die Form der Klauenabdrücke zeigt, ob statt der Hirschartigen nicht ein Wildschwein auf dem Weg zockelte.

Die Fotos und Zeichnungen stammen aus dem Buch „Tierspuren Europas“ von Joscha Grolms (Ulmer Verlag 2021). Grolms setzt Maßstäbe in Darstellung und Interpretation von Zeichen europäischer Tierarten. Er analysiert Kotpillen, Liegeplätze, Bauten, gerissene Rehkadaver, untersucht Fraßspuren an Büschen, Bäumen, Gräsern. Von Pfoten, Klauen, Krallen zeigt Grolms ein Foto, wann immer er die Füße der Tiere finden konnte, sei es Waldspitzmaus, Kranich oder Elch. Die NutzerInnen des Buches können sich daher vorstellen, wie dieser Fuß den Abdruck auf dem Boden hinterlassen hat, den der zertifizierte Spurenleser auf Fotos und präzisen Zeichnungen abbildet.
In Deutschland kommen professionelle Spurenleser bislang selten zum Einsatz. Das Fährten- und Spurenlesen entwickelt sich hierzulande erst seit ein paar Jahren. Angetrieben von international zertifizierten Spuren- und Fährtenlesern der Wildschnisschule Wildniswissen hat sich eine noch überschaubare Schar von geprüften Spurenlesern entwickelt. Sie nutzen das Spuren- und Fährtenlesen für die Naturbildung von Kindern und Studierenden, im Wildtiermonitoring und zum besseren Verständnis des Lebens im Wald und am Flussufer.
Spurenlesen für die Ökologie
Die Artenkenntnis und das Wissen darüber, wie Iltis, Eichhörnchen, Spitzmaus leben, geht oft auch bei Biologiestudentinnen und Studenten verloren. Studierende und angehende Wissenschaftlerinnen lernen Tiere als genetische Sequenz im Labor kennen, nicht als Lebewesen in ihrem natürlichen Umfeld. Doch gerade das Erforschen der Tiere im Wald, im Stadtpark oder am Rande des Maisackers, erzählt von dem Drama des Artensterbens und den noch bestehenden Chancen zum Erhalt der biologischen Vielfalt. Spurenleser sind daher immer auch Ökologen. Sie suchen die Spuren und Zeichen der Tiere, weil sie neugierig sind und verstehen wollen, wo die Tiere fressen, schlafen, ihr Revier mit einer Kotwurst markieren, kopulieren und ihre Jungen großziehen. Spurenleser sehen daher, welche Tiere in einem Lebensraum fehlen, wo sie eigentlich vorkommen sollten. Sie bemerken aber auch, wenn eine Wildkatze durch den Wald gelaufen ist, in dem sie bislang niemand vermutete.
Menschliche Intelligenz versus Wildtierkamera
Spurenlesen ist weitaus günstiger, als jede technische Überwachung der Natur. Naturparks in Europa schicken daher Spurenleser los, wenn sie etwas über Luchse oder Bären in ihren Gebieten lernen wollen. Biologinnen und Biologen nutzen die uralte Fertigkeit des Spurenlesens bei Wildtierkartierungen und im Monitoring von Wolf und Luchs. 2015 beauftragte das Niedersächsische Umweltministerium den Spurenleser Joscha Grolms, einen Krimi auf dem Acker aufzuklären. Ein Jäger hatte behauptet, dass ein Wolf zähnefletschend auf ihn zugerast sei, als er vom Hochsitz stieg. Er erzählte der Polizei, dass er mit der Pistole in den Boden zwischen ihm und dem Wolf schoss und erst dann das Tier seine Richtung geändert habe. Grolms untersuchte stundenlang die Spuren im sandigen Ackerboden rund um den Hochsitz und fand keine Zeichen für die Geschichte vom Wolf. Offenbar hatte der Jäger sich den Vorfall ausgedacht.

Die Zeichnungen von Steinmarder (Foto), Rehklauen, Fuchspfoten, den Krallenabdrücken von Eidechsen, Mäusebussard und allen anderen Arten sind das Meisterstück im Buch „Tierspuren Europas“. Sie sind so genau, dass NutzerInnen des Buches lernen, die Spuren von Haus- und Wanderratten zu unterscheiden und die Details in den Pfoten der drei ähnlich großen Marderartigen Hermelin, Iltis und Mink erkennen können.
Wolf oder großer Hund
Viele Merkmale müssen zusammen kommen, um die Pfotenabdrücke und Fährten von Wölfen eindeutig von denen großer Haushunde zu unterscheiden. Auch Schäferhunde, Huskys und andere Wolfsverwandte hinterlassen große Abdrücke oder Trittsiegel wie Spurenleser sagen. Doch Wölfe haben größere Vorderpfoten als Hinterpfoten. Hunde haben alle möglichen Größen vorne und hinten. Die Zehenballen von Wölfen sind symmetrisch längsoval und gerade nach vorne in Laufrichtung ausgerichtet, genauso wie auch die Krallen nach vorne weisen. Sie geben Wolfsspuren etwas Zielstrebiges, absichtsvolles, ebenso wie die ganze Fährte. Die Krallen von Hunden biegen vom Fußabdruck meistens in unterschiedliche Richtungen ab. In jedem Detail des Fußabdrucks zeigt sich die Lebensweise des Wolfs. Wölfe leben energieeffizient, sie haben keine überschüssige Kraft wie gut gefütterte Hunde. Wölfe jagen jede Mahlzeit. Sie müssen ihre Energie gezielt dafür einsetzen, ein Reh oder ein Wildschwein zu erlegen.
Spuren sind Zeichen und so wie aneinander gereihte Buchstaben eine Geschichte ergeben, erzählen auch die Fährten der Tiere Geschichten aus ihrem Leben. Auf dünnen Schneedecken erkennen Waldspaziergänger vier im Trapez gestempelte Fußabdrücke von Eichhörnchen, die von den Sprüngen zwischen Vorratslager und Schlafbaum erzählen. Die gewundenen Fährten von Füchsen zeugen davon, dass sie sich nachts treffen, flirten, gemeinsam unterwegs sind und Futter finden. Ein Rothirsch streift allein durch den Wald und verrät, dass hier ein alter erfahrener Hirschbulle unterwegs ist. Und auf frischen, dünnen Schnee können Fährtenleser auch die rasanten Sprünge einer Waldmaus nachvollziehen.

Der Autor von Tierspuren Europas vermittelt sein umfangreiches Wissen über die Zeichen der Tiere und das, was sie über ihr Leben erzählen, ohne den Leser zu überfordern. Er beantwortet z.B. anschaulich die Fragen, wer die am Boden liegende Nuss gefressen hat. Oder hat diesen Fichtenzapfen ein Eichhörnchen oder eine Waldmaus abgenagt? Es war ein Eichhörnchen, da es die Zapfenschuppen unregelmäßig abzupft.
Weiterführende Links
Spuren- und Fährtenlesen können Sie u.a. bei der Wildnisschule Wildniswissen und der Wildnisschule Hoher Fläming lernen. FährtenleserInnen tauschen sich hier über ihre Erfahrungen aus.
Die Autorin dieses Beitrages, Ulrike Fokken, ist zertifizierte Spuren- und Fährtenleserin und hat mit der Spurenleserin Stefanie Argow das Buch „Spuren lesen – Geschichten, die uns die Fährten der Tiere erzählen“ geschrieben (Quadriga Verlag 2020). Mehr zu ihrem Buch finden Sie hier.