Wenn Laubbäume im Herbst ihr Laub nicht abwerfen
Marzeszenz nennen Botaniker das Phänomen, wenn Buchen, Eichen und andere Laubbäume die verwelkten Blätter im Herbst nicht abwerfen. Über eine Erklärung rätseln Wissenschaftler noch: Schützen die Bäume sich mit dem Laub an den Ästen vor Kälte? Können sie damit die Nährstoffe besser nutzen? Oder halten Bäume sich mit dem alten Laub die Rehe von den Knospen? Eine Spurensuche im Winterwald.
Im Spätherbst und Winter haben Waldbesucher freie Sicht durch den Wald und das Kronendach, doch hier und da trifft der Blick auf braunes Laub an Bäumen. Vor allem junge Eichen und Buchen zeigen dieses Phänomen, das in der Botanik als Marzeszenz (von lateinisch marcescere, verwelken) bekannt, aber wissenschaftlich bisher ungeklärt ist. Üblicherweise bilden Laubbäume nach Ende der Vegetationszeit an der Blattbasis eine Schicht Pflanzenzellen so um, dass sie durchreißen und das Blatt abfällt. Marzeszente Bäume bilden diese sogenannte Abszissionsschicht im Herbst nicht aus.
Welchen Nutzen könnte Marzeszenz für die Bäume haben? Dieser Frage sind die Botaniker Mason Heberling und Rose-Marie Muzika vom Naturkundemuseum in Pittsburgh (USA) nachgegangen. In einem nahe gelegenen Laubmischwald verschafften sie sich zunächst einen Überblick über das Auftreten von Marzeszenz. Das untersuchte Waldökosystem wird dominiert von der Amerikanischen Buche (Fagus grandifolia), einer nahen Verwandten der europäischen Rotbuche (Fagus sylvatica). Die nordamerikanischen Buchenwälder sind denen in Deutschland ökologisch ähnlich.
Wenige Studien zur Marzeszenz, aber viele mögliche Erklärungen
In dem amerikanischen Wald zeigt sich, was auch in Deutschlands Wäldern beobachtet werden kann: Marzeszenz tritt hauptsächlich bei der Buche sowie bei Eichen- oder Kastanienarten auf. Sie werden alle der botanischen Familie der Buchengewächse (Fagaceae) zugeordnet. Junge Bäume erwiesen sich besonders oft als marzeszent, aber auch die bodennahen Bereiche von älteren, größeren Bäumen behielten ihr braunes Laub an den Zweigen. Das vielleicht überraschendste Ergebnis der Erhebung war, dass marzeszente Bäume das welke Laub bis ins folgende Frühjahr behielten. Erst nachdem der Blattaustrieb aufs Neue begann, warfen sie das alte Laub innerhalb kurzer Zeit ab.
Auf der Suche nach Erklärungen für die beobachtete Marzeszenz zogen die Forschenden alle verfügbare Literatur heran. Ihr erster Befund: Es gibt wenige Studien und wenig Belastbares, dafür aber verschiedene Erklärungsansätze und viel Spekulation. Manche Forschende vermuten gar, dass Marzeszenz nutzlos sei, ein Überbleibsel auf dem evolutionären Weg von immergrünen Vorfahren hin zu den gegenwärtigen Baumarten.

Marzeszente Zweige einer Stiel-Eiche (Quercus robur) in Schleswig-Holstein im November 2025 (Foto: Stefan Kreft)
Welkes Laub an den Zweigen bietet den Bäumen eine Menge Vorteile
Heberling und Muzika haben sich sechs Wirkungswege genauer angeschaut, die einen Nutzen der Marzeszenz für die Bäume bringen würden. Der einfachste Erklärungsansatz: Ein längerer Verbleib des Laubs lässt dem Baum Zeit, die Photosynthese bis in den Herbst zu verlängern. In der Folge entzieht er den verwelkenden Blättern gründlich alles Wiederverwendbare, um es in den Wurzeln zu speichern und im kommenden Frühling für den Blattaustrieb und das Stammwachstum einzusetzen. Die übrigen Erklärungsansätze lassen sich unterteilen nach abiotischen („physikalischen“) Faktoren und nach biotischen Faktoren. Biotische Faktoren haben mit den Wechselwirkungen mit anderen Arten zu tun.
Eine biotische Erklärung setzt beim Nährstoffhaushalt des Waldbodens an. Fällt ein Teil des Waldlaubs erst im fortgeschrittenen Frühjahr, dann setzen die kompostierenden Blätter in einem zusätzlichen Schub Nährstoffe frei, gewissermaßen als Dessert für die austreibenden Bäume. Dazu könnte passen, dass die welke Blattmasse sich an bodennahen Zweigen konzentriert und direkt unterm Baum zu seinem unmittelbaren Nutzen zu Boden fällt.
Halten sich Bäume mit dem welken Laub die Rehe von den Knospen?
Einer anderen Erklärung zufolge halten es Wissenschaftler für möglich, dass trockenes Laub am Zweig zum Beispiel Rehe davon abhält, die grünen Knospen zu fressen. Einen Beweis gibt es auch für diese These nicht. Immerhin passt zu diesem Erklärungsversuch, dass marzeszente Zweige zum weit überwiegenden Teil unterhalb der Verbisslinie auftreten. Sie markiert die Höhe, bis zu der Rehe ihren Hals recken können. In Wäldern, in denen Hirsche vorkommen, liegt die Verbisslinie etwas höher.
Eine interessante Theorie besagt, dass welkes Laub für Vögel, Eichhörnchen und andere Tiere in den harten Winterwochen zu einem attraktiven Substrat für die Nahrungssuche wird. Je länger sie sich mit den Blättern beschäftigen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie Kot fallen lassen, dessen Nährstoffe dem Baum zugutekommen.
Braune Blätter wärmen den Baum in kalten Zeiten
Die abiotischen Erklärungen sind einfacher. Dazu zählt die Überlegung, dass marzeszentes Laub zur Wärmedämmung der frostanfälligen Knospen beitragen könnte. Tatsächlich sind frostige Grade in Bodennähe besonders ausgeprägt. Ein anderer physikalischer Effekt besteht darin, dass Sonnenlicht länger auf die Blätter einwirken kann, wenn diese am Baum verbleiben. Sonnenstrahlung zersetzt komplexe organische Substanzen im Blatt, die beim Laubfall dann schneller wieder für den Nährstoffkreislauf im Waldökosystem zur Verfügung stehen. Und Forschende halten es auch für möglich, dass in Bodennähe die Windstärken einfach zu gering sind, um das Laub vom Zweig zu lösen.
Zu dieser Theorie hält der Fachartikel ein amüsantes Gimmick bereit: In einem Videoclip kann man Mason Heberling beim heftigen Schütteln eines marzeszenten Buchenzweiges beobachten. Kein einziges Blatt löst sich und fällt zu Boden. Es mangelt also eher nicht an Wind und seiner mechanischen Einwirkung.
So viel immerhin ist klar: Marzeszenz ist ein Beitrag zur biologischen Vielfalt und stärkt Ökosysteme
Noch ist unklar, welche der Erklärungsansätze einen Nutzen der Marzeszenz für Bäume begründen können. Zudem könnten auch mehrere Ursachen gleichzeitig für Marzeszenz verantwortlich sein. Das Rätsel der Marzeszenz erinnert daher einmal mehr daran, wie wenig über die Waldökosysteme bekannt ist. Für ein risikofreies Eingreifen reicht das Wissen sicher nicht aus. Daher sollte auch vorsichtiges Handeln auf dem besten verfügbaren wissenschaftlichen Kenntnisstand fußen.
Autor: Dr. Stefan Kreft
Literatur
Heberling, J. M., & Muzika, R. M. (2023). Not all temperate deciduous trees are leafless in winter: The curious case of marcescence. Ecosphere, 14(3), e4410.
Die Studie kann frei heruntergeladen werden: https://esajournals.onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/ecs2.4410
Der Videoclip mit dem zweigrüttelnden Botaniker ist unten auf derselben Seite abrufbar.
Der Botanische Garten Hamburg erforscht mit dem Naturkundemuseum von Pittsburgh und anderen Botanischen Gärten und Forschungsinstitutionen die Marzeszenz: https://www.botanischer-garten.uni-hamburg.de/01ueber-uns/initiativen-projekte/verbundprojekt-marzeszenz.html



