Bildung
Foto: Naturwald Akademie
Wurzelteller – ein Geflecht voller Leben
Wo im Wald die Wurzelteller umgestürzter Bäume in die Höhe ragen, hat der Tod nur für einen Moment den Sieg errungen. Die Wände aus Wurzeln, Erde und Totholz locken nämlich viele Tiere und Pflanzen an und dienen ihnen als Versteck, Ausguck, Badestelle und Kinderstube.
Die spannendsten Geschichten zur Artenvielfalt des Waldes beginnen mit dem Tod – so auch diese. Ein aufgeklappter Wurzelteller bedeutet nämlich unmissverständlich, dass der dazugehörige Baum den Halt verloren und somit nahezu alle Chancen auf ein Weiterleben verspielt hat. Den ein oder anderen Betrachter mag das zunächst wehmütig stimmen. Gerade, wenn man sich den freigelegten „Fuß“ des Baumriesens aus der Nähe ansieht. Der Blick schweift dann über ein wirres Geflecht aus zerfetzten Wurzelsträngen. Dazwischen kleben Sand und Lehm in unterschiedlichen Farbschattierungen. Manchmal umklammern die Wurzelstränge noch Steine oder Felsbrocken, die sie im Fallen los gesprengt haben. Kaum zu übersehen ist außerdem die mehr oder weniger tiefe Bodenmulde am einstigen Standort des Baumes – eine klaffende Wunde im Erdboden, in der sich Grund- und Regenwasser sammeln oder altes Laub verrottet.
Die Mächtigkeit eines Wurzeltellers hängt von der Größe des Baumes und den Gegebenheiten im Wurzelraum ab. Im polnischen Białowieża Nationalpark ragen Wurzelteller bis zu 7,5 Meter in die Höhe und bilden 10 bis 20 Meter breite Wälle. Die meisten Wurzelteller in deutschen Wäldern fallen deutlich kleiner aus, was das Interesse der Waldbewohner aber kaum mindert. „Aufgeklappte Wurzelteller stellen neue Strukturen im Wald dar – und Struktur bedeutet immer Leben“, sagt Prof. Dr. Volker Zahner, Wildtierökologe an der Fakultät Wald und Forstwirtschaft der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf.
Die kleine Heckenbraunelle (Prunella modularis) fühlt sich im Schutz des Wurzeltellers besonders wohl. Sie findet hier einen guten Nistplatz und genug Nahrung durch die vielen Insekten in der Nähe. Ähnlich attraktiv ist das Wurzelgeflecht für Rotkehlchen, Amseln, Singdrosseln, Fliegenschnäpper, Buchfinken, Gimpel, Mönchsgrasmücken und einen der kleinsten heimischen Vögel – den Zaunkönig.
Eine Hausgemeinschaft mit ganz unterschiedlichen Bewohnern
Das Besondere am Kleinbiotop Wurzelteller ist: Es zieht Tier- und Pflanzenarten mit ganz unterschiedlichen Ansprüchen an. Hier wohnen Sonnenanbeter in unmittelbarer Nachbarschaft zu Tageslichtverächtern, Solosänger direkt neben Versteckkünstlern. Wie kann das sein? „Wurzelteller sind sonst im Wald kaum vorkommende Kleinbiotope mit trockenen Bedingungen auf dem Wurzelteller und feuchten Bedingungen in der Bodenmulde“, schreibt das Autorenteam des Praxishandbuches „Naturschutz im Buchenwald“.
Waldeidechsen, Prachtkäfer und Wildbienen lieben den oberen Teil des Tellers, weil er häufig von der Sonne beschienen wird. „Durch seine aufrechte Position speichert ein Wurzelteller oft mehr Wärme als der umliegende Waldboden. Insekten wie die Sand-, Mond- oder Mauerbiene fliegen ihn deshalb gern an. Hinzukommt, dass die staatenlosen Bienen hier auch freiliegenden Rohboden finden, den sie für die Anlage ihre Brutröhren benötigen“, erklärt Volker Zahner.
Das Wurzeldickicht stellt einen attraktiven Nistplatz für Rotkehlchen, Amseln, Singdrosseln, Heckenbraunellen, Fliegenschnäpper, Buchfinken, Gimpel, Mönchsgrasmücken und einen der kleinsten heimischen Vögel – den Zaunkönig dar. „Er sucht sich am Wurzelteller gut exponierte Singwarten in Bodennähe, wo die Luftfeuchtigkeit hoch ist. Dort trällert er dann seinen Reviergesang, der aufgrund der hohen Luftfeuchte sehr laut und weit getragen wird“, sagt Dr. Heike Begehold, Waldvogel-Expertin und Mitautorin des Praxishandbuches. Liegt der umgestürzte Baum in einem Waldstück, das an einen Bach oder ein stehendes Gewässer grenzt, nimmt auch der Eisvogel den Wurzelteller unter die Lupe. Erscheint ihm die Sandschicht zwischen den Wurzelsträngen kompakt genug, gräbt er seine Bruthöhle hinein.
Gerade bei großen Wurzeltellern entsteht am Boden schnell ein kleiner Tümpel, in dem eine große Anzahl von Insekten leben oder ihre Eier ablegen. Dies ist dann das ideale Jagdgebiet für Wald-Fledermäuse, hier der Kleine Abendsegler (Nyctalus leisleri), die dort dann eine Vielzahl von Mücken oder Käfern erbeuten können.
Ein Zuhause auf Zeit für den Teichmolch und andere Amphibien
In der Bodenmulde entscheiden derweil Licht und Feuchtigkeit darüber, wer sie besiedelt. In norddeutschen Buchenwäldern haben Forscher seltene Pionierpilze wie den Dunklen Kohlennabeling (Myxomphalia maura) an den Muldenwänden entdeckt. An den tiefsten Stellen der Grube bilden sich häufig kleine Teiche oder Pfützen, in denen der Teichmolch und im Süden Deutschlands auch die Gelbbauchunke und der Bergmolch laichen. „Solche Kleinstgewässer werden von sehr vielen Tieren frequentiert, weil Wasserstellen in den meisten Waldgebieten selten sind. Sie kommen, um zu trinken, zu baden oder um Beute zu machen wie die kleinen Fledermausarten. Sie jagen an den Wurzeltellern Mücken, die ihre Eier in den Pfützen ablegen“, sagt Volker Zahner.
Außerdem locken Wurzelteller totholz-liebende Käfer und Trauermücken an. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass in norddeutschen Wäldern 44 Trauermückenarten und 228 Käferarten umgestürzte Buchen bevölkern. Zu letzteren gehören zum Beispiel der Rote Schwarzkäfer (Uloma culinaris) und der Nutzholzborkenkäfer (Xyleterus domesticus).
Führt zwischen den Wurzelsträngen ein Bau in die Tiefe, hat ein Fuchs den Wurzelteller als Kinderstube auserkoren. Wildkatzen verstecken sich gern in den Hohlräumen des Wurzeldickichts, die entstehen, wenn der Regen die anhaftende Erdschicht davon wäscht. Mäuse und andere Kleinsäuger finden im Wurzeldickicht ebenfalls Schutz und Nahrung.
Aus der Höhe dem Licht entgegen
Moose und höhere Pflanzen wie Birken oder den Schwarzen Holunder zieht es dagegen eher auf die Aussichtsplattformen des Wurzelwalls. Hoch oben gibt es mehr Licht und Platz für die Keimlinge als am Boden. Zudem besteht kaum Gefahr, dass Rehe und Rotwild die Jungpflanzen verbeißen. „Auf den Wurzeltellern siedeln vielfältige Moospolster und Flechtenrasen zusammen mit seltenen oder gefährdeten Mykorrhizapilzen, die in den umliegenden, Streu- und Stickstoff-angereicherten Oberböden sonst keine Chance zur Fruktifikation haben“, schreiben die Autoren des Praxishandbuches. Ausnahmen aber gehören auch dazu: Das Untergetauchte Sternlebermoos etwa wächst für eine gewisse Zeit an den Wänden der Bodenmulde, gerade wenn diese mit Wasser gefüllt ist.
All diese Beispiele zeigen, welch elementare Rolle Wurzelteller für die Artengemeinschaft eines Waldes spielen. Wissenschaftler wie Heike Begehold und Volker Zahner plädieren deshalb dafür, aufrechtstehende Wurzelteller nicht zurückzuklappen. „In einigen Wirtschaftswäldern wird das aus Sicherheitsgründen noch praktiziert“, sagt Volker Zahner und fügt hinzu: „Wenn man jedoch ein drei bis vier Meter langes Stück des Stammes am Wurzelteller belässt, besteht zum einen kaum die Gefahr des Zurückkippens. Zum anderen verbleibt auf diese Weise mehr Totholz im Wald, was für die Artenvielfalt nur gut ist.“ Schließlich gilt: Je mehr Sonderstrukturen und Nischen ein Wald bietet, desto mehr Tier- und Pflanzenarten finden hier einen Platz zum Leben.
Literatur
Quellen und weiterführende Literatur:
- S. Winter, H. Begehold, M. Herrman, M. Lüderitz, G. Möller, M. Rzanny, M. Flade (2016): Praxishandbuch – Naturschutz im Buchenwald. Naturschutzziele und Bewirtschaftsungsempfehlungen für reife Buchenwälder Norddeutschlands, herausgegeben vom Ministerium für Ländliche Entwicklung, Umwelt und Landwirtschaft des Landes Brandenburg; 2. Auflage
Zu beziehen über: http://www.lfu.brandenburg.de/cms/detail.php/bb1.c.310708.de