Bildung
Foto: iStock
Zurück in alten Revieren
Seit einigen Jahren breiten sich Luchse und vor allem Wölfe langsam wieder in Deutschland aus. Beobachtungen aus anderen Ländern zeigen, dass diese Raubtiere die Entwicklung der Waldlebensräume ganz entscheidend prägen. Wie groß ihr Einfluss auf die deutschen Wälder ist, wissen Wildtierökologen aber noch nicht genau. In Forschungsprojekten wollen sie mehr darüber erfahren, wie die Räuber die Wälder künftig verändern könnten.
Es hat lange gedauert, bis sie nach Deutschland zurückgekehrt sind. Mehr als 100 Jahre galten der Luchs und der Wolf hierzulande als ausgestorben. Seit dem Fall des eisernen Vorhangs aber breitet sich der Wolf von Osten her wieder nach Mitteleuropa aus. Und der Luchs ist vor allem im Harz und im Bayerischen Wald heimisch geworden, wo man die Tiere vor einigen Jahren ausgewildert hat. Zum Jahresende 2019 ging das Bundesamt für Naturschutz davon aus, dass in Deutschland wieder mehr als 130 Luchse und rund 300 erwachsene Wölfe lebten. Nach mehr als einem Jahrhundert gibt es damit bei uns erstmals wieder in nennenswerter Zahl Raubtiere, die größeres Wild reißen. Die Luchse erbeuten vor allem Reh-, die Wölfe durchaus auch Rotwild.
Vielfältige Effekte
Damit stellt sich die Frage, ob oder wie stark sich die deutschen oder mitteleuropäischen Wälder durch die Wiederankunft von Luchs und Wolf in den kommenden Jahren verändern könnten. Aus anderen Ländern, vor allem aus Nordamerika aber auch aus naturnahen Waldgebieten in Europa, wissen Experten, dass die großen Raubtiere verschiedene Einflüsse auf die Lebensgemeinschaften in den Wäldern haben – und dass es ganz verschiedene Effekte geben kann. Finnische Forscher zum Beispiel haben herausgefunden, dass mit der Verbreitung des Luchses die Zahl der Füchse abgenommen hat, die dort Auer- und Haselhühner jagen. Der Grund: Luchse beißen Füchse durchaus tot, wenn diese ihnen zu nahe kommen. In dem Maße, wie die Zahl der Füchse sank, stieg die Anzahl der Hühner.
Der Luchs (Lynx) jagt hauptsächlich Rehe. Er lauert auf Bäumen oder erhöhten Plätzen und springt dann die Rehe an, um sie zu töten. Er frisst aber auch Aas und Nager, Hirsch und Vögel. Luchse sind vorwiegend nacht- und dämmerungsaktive Einzelgänger, die über ein breites Spektrum in der Nahrungsbeschaffung verfügen. 137 Luchse wurden im vergangenen Jahr in zehn Bundesländern gezählt. Das ergab das Wildtiermonitoring des Bundesamts für Naturschutz (BfN), das die Zahlen im Februar 2020 veröffentlichte.
Daten aus dem Ausland
Grundsätzlich unterscheiden Experten direkte und indirekte Wirkungen, die von den Raubtieren ausgehen. Eine naheliegende direkte Wirkung ist, dass die Raubtiere andere Tiere töten und damit ihre Zahl dezimieren. Von einer direkten Wirkung spricht man aber auch, wenn allein die Anwesenheit der Räuber dazu führt, dass Lebewesen ihr Veralten ändern – sich zurückziehen oder zu einer anderen Tageszeit aktiv sind, um den Räubern zu entgehen. Von einer indirekten Wirkung spricht man zum Beispiel, wenn sich durch die Dezimierung von Huftieren die Vegetation verändert – etwa, wenn die Zahl der Rehe oder Rothirsche abnimmt, sodass die jungen Triebe von Bäumen weniger stark verbissen werden. Vor allem wenn Luchs und Wolf gemeinsam in einem Gebiet vorkommen, ist der Druck auf die Huftiere hoch. In Finnland verringerte sich die Zahl der Rehe auf einem Quadratkilometer auf durchschnittlich 1,8 Tiere, wenn Luchs und Wolf im selben Gebiet unterwegs waren. Wo nur der Luchs jagte, waren es hingegen 15 und in Wolfswäldern 10,5 Rehe.
Räuber und Klima wirken zusammen
„Einen messbaren Effekt von Luchs, Wolf oder auch Bär finden wir vor allem auch in Gebieten mit einem harschen Klima und strengen Wintern“, sagt Prof. Dr. Marco Heurich, Wildtierökologe an der Universität Freiburg und Leiter das Wildtiermonitorings im Nationalpark Bayerischer Wald. „Im Schnee können die Huftiere nur schlecht fliehen, andere sind durch die Kälte geschwächt, sodass sie eher zur Beute werden.“ Je strenger der Winter ausfalle, desto größer sei dieser Effekt. Ein Vergleich zwischen Gebieten mit mildem und harschem Klima zeigt, dass in den unwirtlichen Regionen bis zu 40 Prozent mehr Rehe gerissen werden als in jenen mit moderatem Klima. „Welche Effekte der Luchs und der Wolf auf die Wälder in Deutschland haben werden, können wir aber noch nicht abschließend sagen, von wenigen Ausnahmen wie dem Nationalpark Bayerischer Wald mal abgesehen“, räumt Marco Heurich ein. „Uns fehlen einfach Daten – einerseits, weil die Tiere erst seit wenigen Jahren wieder da sind. Zum anderen fehlt es an Geld, um große systematische Studien durchzuführen“ – wie es sie in Skandinavien oder auch Nordamerika bereits gibt. Um die Wissenslücken zu schließen, haben sich Marco Heurich und seine Kollegen aus anderen europäischen Staaten zusammengetan. Sie werten ihre Ergebnisse gemeinsam aus und veröffentlichen zusammen Fachartikel.
Der starke Einfluss des Menschen
Marco Heurich will in den kommenden Jahren auch untersuchen, inwieweit die Tiere deutschlandweit überhaupt einen messbaren Effekt haben. „Deutschland ist dicht besiedelt und stark industrialisiert“, sagt der Forscher. „Straßen, Siedlungen oder intensiv bewirtschaftete Äcker haben durch die Anwesenheit des Menschen bereits auf viele Tiere eine Schreckwirkung – Huftiere sind deshalb eher nachtaktiv.“ Der Luchs hingegen ist ein Nachtjäger und drängt Huftiere eher dazu, tagaktiv zu sein. „Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Einfluss des Menschen hier größer ist“, sagt Marco Heurich. „Insofern müssen wir uns fragen, inwieweit sich durch die zunehmende Verbreitung von Luchs und Wolf die Situation tatsächlich messbar ändert.“
Das eigentlich harmlose Reh (Capreolus capreolus) wird von vielen Waldbesitzern gefürchtet, da es es in großen Gruppen auftritt und viele junge Bäume schädigt (Verbiß). Der Wald kann sich nicht mehr natürlich entwickeln. Waldbesitzer müssen ihre Flächen aufwändig schützen bzw. die Jagd auf Rehe muss verstärkt werden. Wolf und Luchs sind die natürlichen Gegenspieler des Rehes. Studien aus Finnland zeigen, dass die Räuber dort die Zahl der Rehe in den Wäldern deutlich reduzieren.
Mehr Wölfe, weniger Verbiss
Wenig bekannt ist für Deutschland und Mitteleuropa auch über die indirekten Effekte der Räuber – also auf die Vegetation. Aus Mitteleuropa gibt es nur zwei Studien (s.u. Quellen), die sich ausführlich mit diesem Thema befasst haben. Für den Wald von Białowieża im Osten Polens fand man heraus, dass der Verbiss junger Bäume um rund zehn Prozent abnahm, wenn Wolfsrudel in der Nähe waren. Die Datenlage zur Wirkung der Raubtiere für Mitteleuropa ist noch dünn. Welchen Schaden Reh- und Rotwild anrichten, wenn diese in großer Zahl vertreten sind, ist hingegen gut bekannt. Beide fressen die jungen Triebe vieler Laubbäume und auch von Tannen. Nur die Fichten verschmähen sie. „Vor allem seltenere Arten wie die Ahornarten, die Weißtanne oder die Elsbeere haben damit wenig Chancen heranzuwachsen“, sagt Gregor Aas, Forstwissenschaftler an der Universität Bayreuth. „Für die deutschen Wälder kann man zweifellos sagen, dass Baumarten umso seltener sind, je lieber das Reh sie frisst.“ Gregor Aas geht davon aus, dass mancherorts die Zahl der Rehe abnehmen wird. „Hier ist zu erwarten, dass sich künftig auch in Deutschland baumartenreichere Wälder entwickeln könnten.“
Nebenrolle für den Waschbär
Geringer schätzt er den Einfluss von neueingebürgerten Arten wie dem Waschbär oder dem Marderhund ein. „Die Waschbären gelten vor allem auch als Nesträuber“, sagt Gregor Aas. Ob Waschbären, die bevorzugt in Eichenwäldern leben, aber tatsächlich zu einem Rückgang von Vogelbeständen beitragen sei umstritten. Der Marderhund wiederum ist keine ausgesprochene Waldart, sondern bevorzugt eher Unterholz. Ein Einfluss auf die Lebensgemeinschaften in den Wäldern ist, so viel man weiß, eher gering. Ganz anders sieht es im Offenland aus. In den Salzwiesen und Marschen entlang der schleswig-holsteinischen Wattenmeerküste etwa haben inzwischen Lach- und Silbermöwen Brutkolonien aufgegeben, weil der Marderhund dort immer häufiger Gelege plündert. Für den Wald aber ist ein solcher Effekt bisher nicht bekannt.
Literatur
Quellen und weiterführende Literatur:
- Theuerkauf & Rouys, Habitat selection by ungulates in relation to predation risk by wolves and humans in the Białowieża Forest, Poland,Forest Ecology and Management, Volume 256, Issue 6, 5 September 2008, Pages 1325-1332, hier als pdf
- Kuijper et al. (2013), Landscape of fear in Europe: wolves affect spatial patterns of ungulate browsing in Białowieża Primeval Forest, Poland, Ecocraphy, June 2013, hier als pdf
- Videotipp: Auswirkung von Wiederansiedlung von Wölfen in Nordamerika.