Beim nächsten Wald wird alles anders
Was passiert wirklich, wenn Wälder plötzlich absterben oder vertraute Kulturlandschaften verschwinden? Der Autor Hans Jürgen Böhmer fragt aus der Sicht des Wissenschaftlers, warum es uns so schwerfällt, langfristige Prozesse richtig einzuschätzen. Zudem erläutert er, warum unser aktuelle Informationszeitalter einem ganzheitlichen Naturverständnis eher im Wege steht.
Hans Jürgen Böhmer ist Vegetations- und Landschaftsökologe und hat 2004 die Professur für Vegetationsgeografie an der Universität Bonn aufgebaut. Seit 2015 ist er u.a. Direktor am Institut für Geografie, Erdwissenschaften und Umwelt an der University of the South Pacific, Fiji. Er beschäftigt sich mit der weltweiten Situation von Wäldern.
Ein lohnender Blick zurück
Das erste Kapitel widmet sich der Frage, was eigentlich aus dem „Waldsterben“. Was können wir aktuell davon lernen, dass das „Waldsterben“ doch nicht zustande gekommen ist? Böhmer blickt dafür in die Forschung und Politikgeschichte der 80 Jahre zurück und zieht einen Vergleich mit anderen „Waldsterben“ auf Hawaii, Neuseeland und in den USA etwas früher. Er erklärt, warum DAS Waldsterben nicht existiert hat und dass es eine Vielzahl von Ursachen gab, die damals vor allem die Forste/Monokulturen betroffen haben. Denn auch damals wie heute waren die Wuchsbedingungen für viele Bäume alles andere als gut.
Warum wurde von Seiten der Wissenschaft ein „Waldsterben“ prognostiziert und nicht früh und eindeutig differenziert argumentiert? Warum wurden bestimmte Forschungsergebnisse in der Öffentlichkeit bevorzugt und andere nicht wahrgenommen? Der Autor leitet aus den damaligen Vorgängen ab, dass wir Menschen uns lieber von neuen Erkenntnissen verzaubern lassen, als auf das althergebrachte, oder bekannte zu vertrauen. Und das prägt unseren Umgang mit dem Wald bis heute.
Vergessene Erkenntnisse
Im zweiten Kapitel beschäftigt sich Böhmer mit dem absehbaren Problem der letzten zwanzig Jahre: Der Wald, in einem sich ändernden Klima und die neuen Bedingungen in der Bewirtschaftung. Dafür blickt er in die Vergangenheit der botanischen und geografischen Forschung zurück. Exemplarisch untersucht er den Werdegang von Constantin von Regel, der damals, aus seiner heutigen Sicht, wissenschaftlich hervorragend zum Klimawandel und Vegetationsmodellen geforscht und publiziert hatte. Dessen wichtige Forschung ist heute weitestgehend vergessen.
Böhmer zeigt, dass nicht nur der Klimawandel entscheidenden Einfluss auf die Wälder der Welt hat. Die Änderungen können zudem im Zusammenhang mit der veränderten Landnutzung durch die Menschen in den vergangen 50 Jahren einhergehen. Am Beispiel von Dürrephasen in Australien verdeutlicht er, wie stark sich das Ökosystem Wald über viele Jahrzehnte stark verändert. Die dort gemachten Erfahrungen können dabei helfen, uns besser auf die in Mitteleuropa möglicherweise bevorstehenden Auswirkungen häufigerer und stärker werdender Trockenperioden vorzubereiten.
Die Alzheimerisierung der Wissenschaften
Im letzten Kapitel kommt Böhmer, als erfahrener Wissenschaftler an zahlreichen Universitäten dieser Welt, zur aktuellen Forschungslandschaft und deren Probleme. Er sieht, dass viele naturbegeisterte junge Menschen heute in die Mühle des globalisierten, zunehmend neoliberalen Mechanismen gehorchenden Forschungsbetriebes gedrängt werden. Anstatt sich intensiv auf ein Ökosystem einzulassen und die dafür angemessene Zeit in Anspruch zu nehmen, ist es karrieretechnisch nun klüger effizient so viele Publikation ohne Wenn und Aber auszustoßen. Zeitraubende und strapaziöse Datenerhebungen in einem vielleicht schwer zugänglichen Ökosystem sind da oft hinderlich.
Trotz globaler Vernetzung und permanenten Wachstums in der ökologischen Forschung scheint die Zahl der Innovationen zurückzugehen und das Wissen vieler Akteure über komplexe Zusammenhänge zu schwinden. Aber wie ist das möglich? Seiner Meinung nach sind dafür Sprachbarrieren, Meinungs-Blasen und Parallelwelten in den Wissenschaften dafür verantwortlich.
Es wird ohnehin immer schwieriger, in der so erzeugten Flut von wissenschaftlichen noch die Übersicht über die Publikationen eines Fachgebietes zu behalten. Wer kann im Bereich der Umweltforschung von sich behaupten, alle für die eigene Forschung relevanten Neuerscheinungen zu überblicken, geschweige denn inhaltlich erfassen zu können?
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Er spricht sich daher für mehr Qualität und weniger Quantität aus, mehr Ruhe und Gelassenheit, zum Wohle der Wissenschaft und der WissenschaflterInnen. Mit Einschränkungen für überregionalen oder globale Studien zum Wald: „Wer niemals in dem Wald war, über den er forscht, läuft Gefahr, zu Fehlschlüssen über Bestand und Entwicklung dieses Waldes zu kommen. Diese Entfremdung des Naturforschenden von der Felderfahrung kann gefährlich werden – unmittelbar für die betreffenden Ökosysteme und die sie aufbauenden Organismen, letztlich aber für uns alle…. Fernerkundung, Modellierung und Untersuchungen in den Wäldern vor Ort müssen sinnvoll miteinander verbunden werden und sich gegenseitig ergänzen, aber auch absichern.“
Er schließt mit einem Appell: „Wissenschaft braucht Zeit zum Nachdenken. Wissenschaft braucht Zeit zum Lesen und Zeit zum Fehler machen. Wissenschaft weiß nicht immer, wo sie gerade steht. Wissenschaft entwickelt sich unstet, ruckartig und in unvorhersehbaren Sprüngen … Wir brauchen Zeit, um uns gegenseitig misszuverstehen, insbesondere wenn wir den verloren gegangenen Dialog zwischen Geistes- und Naturwissenschaften wiederbeleben wollen.“
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