Die Rückkehr der Raben
Nachdem Raben in Deutschland fast ausgerottet waren, sind sie heute wieder im ganzen Land heimisch. Wälder spielen für den großen Vogel vor allem als Bruthabitat eine wichtige Rolle. Doch obwohl die Tiere so bekannt und auch wieder präsent sind, geben sie noch immer Rätsel auf.
Man hat ihm vieles angedichtet – Lämmermörder, Vorbote des Todes, Gespons von Alchemisten und Magiern. In Ottfried Preußlers Buch „Krabat“ verzaubert der Hexenmeister seine Müllerburschen in Raben, um sie als Späher auszusenden. Alles in allem galt der Kolkrabe (Corvus corax, allgemein auch Rabe genannt) in Deutschland lange Zeit als einer der düstersten Vögel. Und so wurden die Raben zu Tausenden abgeschossen, bis die Art in den 1970er-Jahren hierzulande fast ausgestorben war. Erst nachdem im Jahr 1979 die Vogelschutzrichtline der Europäischen Union verabschiedet worden war, ging es mit den Raben aufwärts. Heute sind sie wieder in ganz Deutschland zu finden.

Kolkrabe (Corvus corax)
Der Kolkrabe ist mit Abstand die größte Singvogelart Europas. Er ist mit einer Körperlänge von 54 bis 67 cm und einer Flügelspannweite von 115 bis 130 cm z.B. größer als ein Mäusebussard. Kolkraben sind hinsichtlich der besiedelten Lebensräume sehr anpassungsfähig und bewohnen Hochgebirge, Wälder sowie offene und halboffene Landschaften aller Art von der Tundra im Norden über die mitteleuropäische Kultursteppe bis zu Halbwüsten im Süden des Verbreitungsgebietes. Genaue Angaben zum Durchschnittsalter wildlebender Kolkraben liegen nicht vor. Die ältesten nachgewiesenen beringten freilebenden Vögel wurden 21 und 23 Jahre alt.
Raben sind Flugkünstler, die Salti vollführen und streckenweise auf dem Rücken fliegen können. Sie folgen dem Menschen bis zu den Müllhalden und Abfallhaufen. Man sieht sie über der offenen Landschaft fliegen oder auch in kleineren Gehölzen an Feldrändern sitzen. In der Stadt brütende Raben aber wurden noch nicht entdeckt, denn zum Brüten ziehen sich die Paare in Wälder zurück. „Raben sind anpassungsfähig und finden sich in verschiedenen Lebensräumen zurecht“, sagt Markus Dietz, Geschäftsführer des Instituts für Tierökologie und Naturbildung in Gonterskirchen bei Gießen. „Wenn es aber um ihren Horst geht, sind sie sehr sensibel. Die Vögel suchen sich abgelegene, geschützte Plätze und die finden sie in Deutschland im Grunde nur in Wäldern.“ In der Regel brüten sie auf älteren Laubbäumen, seltener auf alten Nadelbäumen wie Kiefern, Fichten und Lärchen. „Die hohen und alten Bäume sind oft besonders auffällig, sodass man die Horste eigentlich ganz leicht finden kann“, sagt Dietz. Vor allem ruhige Waldgebiete von 1000 Hektar und mehr seien für brütende Raben ideal.
Rückkehr nach Deutschland
Anfang der 1990er-Jahr hatte Markus Dietz Raben erstmals genauer beobachtet, als er in den Pyrenäen war. „Ich dachte damals, wie schön es wäre, wenn ich sie auch in Deutschland häufiger sehen würde.“ Er ahnte damals nicht, dass der Wunsch nur wenige Jahre später in Erfüllung gehen würde: Mit dem Verbot der Jagd breiteten sich die Raben in wenigen Jahren wieder über Deutschland aus. Auch hatte Markus Dietz damals nicht damit gerechnet, dass bereits Ende der 1990er-Jahre auch die Hetze von Neuem beginnen würde. Immer öfter berichteten die Medien jetzt vom Raben als Lämmermörder, der frisch geborenen Schäfchen den Bauch aufhacke. „Die Diskussion von damals ähnelt so ziemlich dem, was wir derzeit beim Wolf erleben“, sagt Dietz. Um die Vorurteile wissenschaftlich zu überprüfen, wurden damals zum ersten Mal größere biologische Studien gestartet. Die Ergebnisse waren eindeutig und im Grunde zu erwarten – als Allesfresser ernähren sich Raben von Vielerlei: von Mäusen, größeren Insekten, Regenwürmern, von Mais und vor allem auch von Aas und Nahrungsabfällen. Sofern man Raben auf Schafweiden beobachtete, machten sie sich über Nachgeburten her, nicht aber über Lämmer. Tatsächlich haben diese Studien den Raben von seinem Stigma befreit.

Mit Köpfchen auf Nahrungssuche
Der Kolkrabe ist Allesfresser, wobei tierische Anteile meist überwiegen. Das Nahrungsspektrum umfasst kleine Wirbeltiere aller Art, Vogeleier, größere Insekten, Regenwürmer, Aas sowie Früchte und menschliche Nahrungsabfälle jeder Art. Die Strategien bei der Nahrungssuche sind sehr variabel, bedingt durch das extrem breite Nahrungsspektrum und die große Lernfähigkeit der Art. Kolkraben sind ausgesprochene Stand- oder allenfalls Strichvögel. Jungvögel schließen sich nach dem Verlassen des elterlichen Reviers zu Trupps zusammen und wandern auf der Suche nach Nahrungsquellen weit umher. Im Normalfall entfernen sich die Vögel dabei bis zu 200 km vom eigenen Schlupfort.
Inzwischen ist es um ihn in wissenschaftlicher Hinsicht sehr ruhig geworden. „Es ist wieder so normal, Raben zu sehen, dass kaum Interesse besteht, die Tiere genauer zu erforschen“, sagt Markus Dietz. „Wir wissen zum Beispiel kaum etwas darüber, wie sie die Landschaft nutzen, wie sie neue Gebiete besiedeln und wie sie sich sozial organisieren, um voneinander zu lernen.“ Unklar sei bislang auch, welche Bedeutung Raben im Ökosystem Wald im Detail spielten. „Klar, als Aasfresser tragen sie dazu bei, dass Kadaver verschwinden. Aber das sind eher klassische, schon fast stereotype Nutzenaspekte“, sagt Markus Dietz. „Ich würde Raben gern mit Sendern ausstatten, um deren Verhalten und Aktionsradius genauer zu erforschen, für solche Projekte gibt es heute aber kaum Finanzmittel. Eigentlich schade – denn wer weiß, was man damit noch über sie herausfinden würde.“
Mehr als nur ein schlauer Kopf
Insgesamt weiß man heute also noch erstaunlich wenig über den Raben. Bekannt ist, dass Paare ihren Neststandort über viele Jahre nutzen. Junge Raben ziehen in Nichtbrütertrupps umher. Nähern sich die Junggesellen einem Horst, werden sie von dem Paar angegangen und vertrieben. Außerhalb der Brutsaison aber sind Raben ausgesprochen soziale Tiere, die im Kollektiv auf Nahrungssuche gehen. Entdeckt ein Rabe einen Kadaver, fliegt er empor und dreht Kreise, um andere Raben herbeizulocken. Gemeinsam machen sie sich dann über den Kadaver her – denn zusammen ist es einfacher, Mäusebussarde, Rabenkrähen oder Füchse auf Distanz zu halten, die ebenfalls am Aas fressen.
Kolkraben sind auch Waldvögel
Bekannt ist auch, dass Raben eine spielerische Intelligenz haben. Sie probieren gern Dinge aus, nutzen Äste oder andere Gegenstände als Werkzeuge, um an verborgene Nahrung heranzukommen. „Wenn es in den vergangenen Jahren Studien zu Raben gab, dann meist solche mit Lernversuchen“, sagt Markus Dietz. „Aktuelle ökologische Studien sind mir nur aus dem Vereinigten Königreich und den USA bekannt.“ Er ist immer wieder von der Intelligenz der Vögel überrascht. Wenn er sich zum Beispiel auf der Suche nach Fledermausquartieren einem Horst nähert, machen die Raben Radau. Sie fliegen vom Horst weg und lenken so vom Nachwuchs ab. „Sie werden richtig laut, wenn ich mich länger aufhalte.“ Im Revier eines befreundeten Schäfers gibt es Raben, die den Pfiff nachahmen können, mit dem er seinen Hund zurückruft. Wenn die pfiffen, sei der Hund jedes Mal völlig durcheinander. Für Markus Dietz gehören Raben endlich wieder zum Wald dazu. Ihr rauer Ruf ist für ihn zur Stimme des Waldes geworden.
Quellen und Lesetipps
- Glandt, Dieter. “Der Kolkrabe (Corvus corax) in Mitteleuropa.” Ergebnisse des gleichnamigen Symposiums vom. Vol. 12. 1991.
- Heinrich, Bernd. “An experimental investigation of insight in common ravens (Corvus corax).” The Auk 112.4 (1995): 994-1003.
- Heinrich, Berndt, and Rachel Smolker. “Play in common ravens (Corvus corax).” Animal play: Evolutionary, comparative, and ecological perspectives (1998): 27-44.
- Wright, Jonathan, Richard E. Stone, and Nigel Brown. “Communal roosts as structured information centres in the raven, Corvus corax.” Journal of Animal Ecology (2003): 1003-1014.
- Massen, Jorg JM, Caroline Ritter, and Thomas Bugnyar. “Tolerance and reward equity predict cooperation in ravens (Corvus corax).” Scientific reports 5.1 (2015): 1-11.
Populärwissenschaftliche Bücher
- Cord Riechelmann, Krähen. In der Reihe Naturkunden von Matthes & Seitz
- Rabenschwarze Intelligenz von Josef Reichholf, Herbig Verlag
- Haller, Heinrich: Der Kolkrabe – Totenvogel, Götterbote, tierisches Genie. Fotoporträt von einem Naturforscher. Hochwertige, bibliophile Ausstattung im großen Bildband-Querformat – mit ästhetischem und seltenem Bildmaterial. Haupt-Verlag