
Guter Waschbär, böser Waschbär?
Plagegeist, gewitzter Räuber und Gefahr für die heimische Tierwelt: Als Neubürger aus Amerika hat der Waschbär hierzulande keinen guten Ruf. Doch aufwendige Studien zeigen, dass er sich eher unauffällig in die deutsche Tierwelt integriert hat. Ist es an der Zeit, den Waschbären zu rehabilitieren?
Der Waschbär ist ein putziger kleiner Kerl. Er sieht pfiffig aus mit seiner spitzen Nase und der frechen Augenbinde. Tatsächlich ist er in gewisser Weise schlau, weil er in verschiedenen Lebensräumen und sogar in der Nähe von Dörfern und Städten gut zurechtkommt. Er passt sich flexibel an das Nahrungsangebot vor Ort an. Während manche Tierarten auf einige wenige Nahrungsquellen spezialisiert sind, frisst der Waschbär das, wovon gerade am meisten da ist. Diese Anpassungsfähigkeit ist ein Grund für seinen Erfolg.

Waschbär (Procyon lotor)
Mit einer Länge von 40 – 75 Zentimetern und einem Gewicht bis zu 9 Kilogramm ist der Waschbär der größte Vertreter der Familie der Kleinbären. Typisch für den Waschbären ist der ausgeprägte Tastsinn der Vorderpfoten und die schwarze Gesichtsmaske. Der Waschbär verfügt über ein gutes Gedächtnis. In Versuchen zeigte sich, dass sie sich auch noch nach drei Jahren an die Lösung einer früher gestellten Aufgabe erinnern konnten. Waschbären sind Allesfresser und leben bevorzugt in gewässerreichen Laubmischwäldern.
Der Waschbär stammt eigentlich aus Nordamerika, ist heute aber auch in verschiedenen Regionen Europas zuhause – in Nordfrankreich, im Kaukasus und in Weißrussland; und vor allem auch in Deutschland. In den 1930er-Jahren hatte man am Edersee in Hessen Pärchen ausgesetzt. In Brandenburg wiederum waren in den 1940er-Jahren Tiere aus einer Zuchtfarm entkommen. Zwar sind feuchte Mischwälder in Kombination mit Bächen, Tümpeln, Seen oder Mooren das bevorzugte Habitat der Waschbären. Doch ist er darauf nicht festgelegt. So haben sich die Waschbären sowohl vom Edersee als auch von Brandenburg über große Teile Deutschlands ausgebreitet.
Ungeliebter Fremdling?
Insofern ist der Waschbär eigentlich ein Fremder in Europa – ein Neozoon, ein neue Tierart. Vor allem aber ist er seit Jahrzehnten ein Tier mit einem schlechten Image. Es gibt viele Anekdoten und Berichte von „Problem-Waschbären“, die Nistkästen ausräubern, Früchte aus Gärten stibitzen und nachts Mülleimer nach Fressbarem durchwühlen. Der Waschbär hat wenig scheu vor dem Menschen und wird damit schnell als aufdringlich empfunden. Vor allem Vogelfreunde, betrachten ihn als „invasive Art”
Die Wildbiologin Dr. Berit Annika Michler hat diese Annahmen überprüft. In ihrer Doktorarbeit hat sie im Detail analysiert, was Waschbären fressen und ob sie seltene und gefährdete Tierarten dezimieren. „Das Problem besteht darin, dass man bis heute aus vielen Einzelbeobachtungen falsche Schlüsse zieht“, sagt Michler. „Der Waschbär wird als Ursache von Problemen betrachtet, ohne dass man diese Annahmen durch wissenschaftliche Untersuchungen bestätigt.“ In ihrer Doktorarbeit hat sie zwei Gebiete miteinander verglichen, um den Einfluss der Waschbären auf die Tierwelt zu messen: ein naturnahes feuchtes Mischwaldareal im Müritz-Nationalpark, das zum großen Teil unbewirtschaftet ist, und einen Wirtschaftswald unweit von Neustrelitz in Mecklenburg-Vorpommern. Die Frage war, ob der Waschbär tatsächlich als invasive Art in Erscheinung tritt – insbesondere im Nationalpark, der viele seltene Arten beherbergt.
Eine einmalig aufwendige Waschbär-Studie
Der Arbeitsaufwand war enorm. Zusammen mit ihrem Team von der Technischen Universität Dresden legte Berit Annika Michler mehr als 60 Waschbären kleine Sender an, um sie verfolgen und ihre Latrinen ausfindig zu machen. Das Team sammelte Hunderte von Kotproben, um anhand der unverdauten Reste herauszufinden, was die Tiere gefressen hatten.

Dr. Berit Michler stattet einen Waschbären mit einem Sender aus
Dem Waschbären gebührt neben dem Mink (Neovison vison) und dem Marderhund (Nyctereutes procyonoides) innerhalb der europäischen Raubsäugerfauna als Neozoon ein Sonderstatus. Obwohl der Waschbär seit mittlerweile über 80 Jahren in Deutschland ansässig ist, gehörte er bis vor kurzem zu den am wenigsten untersuchten Raubsäugern Europas. Wegen der kontroversen Diskussion über den nachhaltigen Einfluss des Waschbären auf Boden- und Höhlenbrüter besteht heute neben dem wissenschaftlichen auch ein großes öffentliches Interesse, diese Wissenslücke zu schließen.
Um die Frage zu beantworten, ob der Waschbär in Wäldern tatsächlich eine invasive Art darstellt, musste das Team nicht nur herausfinden, welche Tiere auf seinem Speiseplan stehen, sondern auch wie viele Tiere Waschbären erbeuten. Zu diesem Zweck führten die Biologen vor der Feldarbeit Fütterungsversuche in einem Wildgehege durch. Sie wogen zunächst die Beutetiere, die sie an die Waschbären verfütterten, und anschließend den Kot, um zu erfassen, wie viel von den verspeisten Tieren übrig blieb. So konnte das Team nun auf die Anzahl der tatsächlich verspeisten Tiere schließen. Mit der Studie war es erstmals möglich, die genaue Zahl gefressener Tiere zu ihren Gesamtbeständen in der Umgebung in Beziehung zusetzen. Das war möglich, weil für den Nationalpark umfangreiche Datensätze aus Tierzählungen zur Verfügung standen – etwa für die Singvögel.
Die Ergebnisse dieser in Europa einmalig aufwendigen Studie lassen aufhorchen: Waschbären fressen vor allem das, was ohnehin in großer Zahl da ist. Und das waren sowohl im Nationalpark als auch im Wirtschaftswald Regenwürmer. Besonders gern verspeisten sie auch Schnecken und Muscheln sowie Früchte von Bäumen und Sträuchern. „Nur etwa 10 Prozent der Biomasse, die die Waschbären zu sich nehmen, entfällt auf Wirbeltiere wie zum Beispiel Eidechsen, Frösche und Vögel – oder auch Vogeleier“, sagt Berit Annika Michler. Dieses Resultat ist besonders interessant, weil andere Wissenschaftler und insbesondere Vogelkundler lange davon ausgegangen waren, dass Waschbären Vogelbestände in manchen Gebieten durch das Ausplündern von Nestern gefährden können. „Solche Beobachtungen gibt es“, sagt die Biologin. „Wie unsere Daten zeigen, gilt aber auch hier: Waschbären fressen das, was ohnehin in großer Zahl da ist.“ An der Müritz und in dem Wirtschaftswald bei Neustrelitz waren das insbesondere Kohlmeisen oder die Küken von Rabenvögeln. In Summe fraßen die Waschbären insgesamt nur einen Bruchteil der Vogelpopulation.
Waschbär keine Bedrohung für Rote-Liste-Arten
Michler und ihre Kollegen haben auch untersucht, inwieweit die Waschbären in den beiden Untersuchungsgebieten Rote-Liste-Arten fressen. Die Ergebnisse sind eindeutig. Seltene Arten sind so gut wie nicht dabei. Eine Ausnahme ist der geschützte Moorfrosch, der im Müritz-Nationalpark weit verbreitet ist. „Es überrascht uns daher nicht, dass er relativ oft von Waschbären erbeutet wurde“, sagt Berit Annika Michler. „Angesichts der großen Moorfroschbestände sind wir aber weit davon entfernt, dass der Moorfrosch durch den Waschbären an der Müritz gefährdet sei. Der Waschbär ist nicht ansatzweise ein Problem.“
Feuchte Mischwälder mit Altholzbeständen sind das ideale Revier des Waschbären. Wichtig sind für ihn Bäume mit großen ausgefaulten Asthöhlen, in denen er seine Jungen zur Welt bringt. Zwar kommt er auch in Forsten wie etwa Kiefernbeständen vor, aber diese durchstreift er eher, erzählt die Wildtierbiologin Michler. „Weil er so enorm anpassungsfähig ist, erwarten wir für die Zukunft, dass er zunehmend auch die Randbereiche von Mischwäldern besiedeln wird.“ Ein Grund zur Sorge sei das nicht, wie ihre Studie belege.
Gleichwohl teilt das Bundesnaturschutzgesetz seit der Novelle im Jahr 2017 Tiere nur noch in gefährdete und invasive Arten ein. Demnach zählt der Waschbär als Neozoon zu den invasiven Arten. Für Berit Annika Michler ist das Schwarz-Weiß-Denken, „eine Einteilung in gut und böse, die stark vereinfacht und im Falle des Waschbären schlicht falsch ist.“
Nach Abschluss ihrer fünfjährigen Studie ist für sie eines sicher: Der Waschbär ist ein Neubürger, der sich in Deutschland etabliert und zugleich unauffällig in die hiesige Fauna integriert hat. Er ist zum festen Bestandteil der feuchten Mischwälder in Mitteleuropa geworden – nicht mehr und nicht weniger.
Quellen und Lesetipps:
Michler, B.A. (2020): Koproskopische Untersuchungen zum Nahrungsspektrum des Waschbären Procyon lotor (Linné, 1758) im Müritz-Nationalpark (Mecklenburg-Vorpommern) unter spezieller Berücksichtigung des Artenschutzes und des Endoparasitenbefalls. – Wildtierforschung in Mecklenburg-Vorpommern, Band 5, 168 S.
Website des Waschbär-Forschungprojektes mit vielen Berichten und Bildern.